#Roman

Das Kinderfräulein

Ivan Ivanji

// Rezension von Daniela Strigl (Hrsg.)

Mit seinem neuen Roman begibt sich Ivan Ivanji auf jenes historische Terrain, das Aleksandar Tisma mit seinem Werk gebieterisch in Besitz genommen zu haben scheint. Der Schauplatz, Ivanjis Banater Geburtsort Groß-Betschkerek (heute Zrenjanin), liegt nur etwa dreißig Kilometer von Tismas Heimatstadt Novi Sad entfernt. Die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs bilden da wie dort den Stoff der Erzählung. Der in Wien lebende Ivanji schreibt freilich auf deutsch und gehört somit eigentlich zur österreichischen Literatur.

Das Kinderfräulein Ilse von Bockberg ist die Tochter eines verarmten Kärntner Adeligen, die in den dreißiger Jahren eine Stellung in Jugoslawien annimmt. Bewaffnet mit einem zerlesenen Rilke-Band und bescheidenen Slowenisch-Kenntnissen, kommt sie im Banat an und erfährt, daß in der ehemaligen k.u.k. Provinz jedermann Deutsch, Ungarisch und Serbisch spricht. Die Familie ihres Dienstherren, des jüdischen Zuckerfabrikanten Keleti, nimmt Ilse bald wie ihresgleichen auf. Der kleine Viktor, für dessen Erziehung und (deutsche) Bildung sie zu sorgen hat, wächst ihr ans Herz. Die leichtsinnige Frau Keleti, die Kokain schnupft und sich im Urlaub am Wörthersee mit einem Raddampfer-Kapitän einläßt, wird ihr zur Freundin. Während Ilse sich immer fester im fremden Haushalt etabliert, festigt sich „draußen“ in der Welt die Macht Hitlers. Der Schwäbisch-Deutsche-Kulturbund beginnt offensiv den Boden im Banat zu bereiten und freut sich, mit Ilse eine echte Adelige aus dem Altreich oder jedenfalls der Ostmark als Mitglied zu gewinnen. Mit der Besetzung Jugoslawiens durch die deutsche Wehrmacht 1941 findet Ilse sich auf der Seite der Sieger, die mit ihrem Arbeitgeber kurzen (also gar keinen) Prozeß machen. Das Leben von Mutter und Sohn kann das Kinderfräulein retten – indem es sich für die örtliche Gestapo verdingt. Die ersten Todesfälle unter ihren Bekannten erschüttern sie noch, doch bald gewöhnt sie sich an die Rolle der Kanzlistin: „Sie selbst bedrohte ja niemanden, verursachte niemandem Leid. Sie registrierte es nur. Akkurat, wie sie auch bisher alles im Leben, was sie tun mußte, getan hatte. Sie tröstete sich, es war ja Krieg. Im Krieg sterben eben Menschen.“

Ivanji erzählt seine Geschichte sorgsam und unaufgeregt, verleiht ihr anschauliche Substanz und psychologische Plausibilität. Obwohl er seine Figuren eben nicht als Exempel einer mißlungenen multiethnischen Versuchsanordnung mißbraucht, porträtiert er in ihnen eine zwischen die Mühlsteine der Geschichte geratenene Region und damit auch die Gruppe der Volksdeutschen, die, teils schuldbeladen, teils schuldlos, die mörderische Rache der Partisanen zu spüren bekamen. Als Ilse zum ersten Mal einen Flüchtlingstreck sieht, fällt ihr Goethe ein: „Denn es verläßt der Mensch so ungern das Letzte der Habe. / Und so zog auf dem staubigen Weg der drängende Zug fort, / Ordnungslos und verwirrt.“ Bald gehört sie selbst zu den Geächteten. Ilses Weg führt durch die berüchtigten Sammellager zu einem bescheidenen Posten im städtischen Krankenhaus: Andere, die keinen Anteil an der Schuld hatten, überlebten nicht.

Wie Tisma hat Ivanji einen Sinn für den amoralischen Aberwitz des Zufalls. Mag es seiner Prosa auch an lakonischer Wucht und kompositorischem Raffinement fehlen, so ist sie doch schlicht ergreifend: So konventionell kann man auch heute ruhig erzählen, wenn man es kann. – Nur das epiloghafte Zusammentreffen zwischen dem alten Kinderfräulein und dem berühmten Architekten Viktor Keleti „nach einem halben Jahrhundert“ in Wien erweist sich als ästhetischer Mißgriff: Da soll allzu viel noch untergebracht werden, was den Rahmen sprengt. Und Viktors authentisch fundierter Bericht von seinen Besuchen in Buchenwald und Yad Vashem verblaßt in seiner Faktenfülle vor den Farben der erfundenen Geschichte.

Ivan Ivanji Das Kinderfräulein
Roman.
Wien: Picus, 1998.
280 S.; geb.
ISBN 3-85452-421-8.

Rezension vom 19.11.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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