Doch jenseits dieser unleugbaren ewigen Wiederkehr des ewig Gleichen enthält „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ auch ein „Eigenes“, das ihm die interpretierende Monographie der Bettina Hartz sozusagen zurückgegeben hat. Der Zentralpunkt ihrer Interpretation liegt wohl darin, dass sie zwei Elemente des Stückes in gewisser Weise ernster nimmt als ihre VorgängerInnen. Dass die „Königin der Nacht“ eine Zentralfigur des Stückes ist und dass Anspielungen auf die „Zauberflöte“ das Stück durchziehen, wurde bisher meistens als eine Art persönliche Reminiszenz an diese Oper gedeutet, von der Bernhard behauptete, dass sie in seiner kurzen Bühnenkarriere eine wichtige Rolle gespielt hätte. In einer ähnlichen Weise ins Feld des biographisch motivierten Zufalls wurden die endlosen, nur selten vom „Vater“ oder der „Königin“ unterbrochenen Monologe des „Doktors“ geschoben: die offenkundigen Zitate aus Lehrbüchern des Sezierens wurden Peter Fabjans Medizinstudium zugeschrieben.
Doch hier, so zeigt Bettina Hartz in ihrem äußerst präzise geführten Versuch einer Rekonstruktion der Bernhardschen „Geistesarbeit“, mag der Zufall den äußeren Anlass geliefert haben, doch beide Texte – das Libretto der „Zauberflöte“ und das Lehrbuch des Sezierens – spielen in dem Stück eine bedeutendere Rolle als bisher angenommen.
Die „Zauberflöte“ enthält – auch – eine Popularisierung der Entwicklungsperspektive der Aufklärung und Bernhard kritisiert nicht nur in einer für seine Denkweise charakteristischen Art diese Perspektive, sondern geht soweit, sie gewissermaßen zurückzunehmen: am Ende dominiert nicht das Licht, sondern die skandalisierte Dunkelheit. Bettina Hartz sieht in dem Stück Analogien zur Aufklärungskritik Adorno / Horkheimers, weist aber auch daraufhin, dass Bernhard die von den Romantikern anvisierte Synthese von Poesie und Wissenschaft hinter sich lässt. Es gibt keine Entwicklung und die Notwendigkeit einer „Auslöschung“ bietet sich schon hier als noch nicht angesprochene einzige Lösung an.
Auch die Figuren der Handlung haben mit denen der „Zauberflöte“ mehr zu tun, als die bloße Identität der weiblichen Protagonistin als Sängerin einer tragenden Rolle aus dieser Oper signalisiert. In der sorgfältigen Lektüre der Bettina Hartz verwandelt sich die „Königin“ in die Personifikation eines weiblichen Prinzips, das im Referenztext auf zwei Figuren – Pamina und ihre Mutter – aufgeteilt ist, der Doktor trägt Züge des Tamino, dem das Eingeständnis seiner Liebe schwer fällt. Das Liebesduett findet hier allerdings statt – in der Verkleidung des medizinischen Vortrags. Der alkoholsüchtige tyrannische Vater wiederum trägt Hartz zufolge Züge des Sarastro, wobei sie aus Andeutungen herausliest, dass eines der Bernhardschen Zentralthemen – der Inzest – auch hier angespielt wird. Bei genauer Lektüre flüchtet die „Königin“ also nicht nur vor dem Vater, sondern vor zwei Männern, die ihr nachstellen. Der „Vater“ und der „Doktor“ sind Rivalen und das Medium, mit dem sie ihre Konkurrenz austragen, sind die Sektionsprotokolle: trotz der spärlichen Interventionen des „Vaters“ hat der Monolog des „Doktors“ auch ein dialogisches Element und beinhaltet einen verdeckt ausgetragenen Kampf zweier Männer um eine Frau. Noch etwas erfahren wir aus den scheinbar sinnlosen Tiraden des „Doktors“: die „Königin“ leidet möglicherweise an lymphatischer Leukämie.
In den Theaterstücken Bernhards wurde vieles als – bühnenwirksamer – „Unsinn“ verbucht. Bettina Hartz hat an einem exemplarischen Fall gezeigt, dass diese Lesehaltung dem Text gegenüber inadäquat ist. Wenn ihr Lektüremodell NachfolgerInnen findet, dann wird sich zeigen, dass die Bühnenwelt Bernhards um einiges facettenreicher ist als bisher angenommen.