So beschließt Yaak Karsunke seine „nänie auf ein paar nager“ und so organisiert – zumindest was den metaphorischen Abusus betrifft – Heide Platen ihre spannende Spurensicherung zum europäischen Ekeltier Nummer eins. Das Warum und Woher dieses weit verbreiteten Abscheus ist nicht leicht festzumachen und scheint verschlungene psychologische Wurzeln zu haben. Es geht um verborgenen Ängste, um Erotik und irrationale Schuldzuteilungen. Daß Ratten dem Rattenfloh und dieser dem Pesterreger, dem Bakterium Yersinia pestis, als Zwischenwirte dienen, wurde 1894, 173 Jahre nach dem Ende der Pest in Europa entdeckt. Wenngleich die Pest hierzulande keine reale Gefahr mehr darstellt, ist die Ratte als gefährlicher Seuchenüberträger im Bewußtsein fest verankert, sehr im Unterschied zu ihren „gefiederten Namensvettern, den Flugratten“ (S. 95), die immer noch als fütterungswürdige niedliche Täubchen die Städte mit ihren Exkrementen überziehen.
Aufgrund dieser ins Irrationale, in verborgene Abgründe der menschlichen Seele reichenden Aspekte der Rattenwahrnehmung – reich dokumentiert auch durch regelmäßige Ratten-Horrormeldungen auf den Chronikseiten der heimischen Presse zu Zeiten des alljährlichen Sommerlochs – greift Heide Platen auf allen Ebenen ihrer Darstellung auf literarische und künstlerische Zeugnisse zurück. Wer also etwas über „die Ratte in der Literatur“ erfahren möchte, sollte sich nicht auf die Lektüre des so übertitelten achten Kapitels beschränken, es würde ihm zu viel entgehen.
Egal ob es um den „Rattenekel“ als Phänomen geht (Freuds „Rattenmann“ tritt hier auf), um die Ratte als Hexentier (auch Goethes Mephisto bedarf für seine Zauberkünste eines Rattenzahns), um die Pest (von Boccaccios Decamerone über den lieben Augustin und Defoes Die Pest zu London bis zu Albert Camus), um Rattenbekämpfung (die sagenhafte Variante des Rattenfängers findet sich nicht nur bei Goethe und Heinrich Heine, sondern auch bei Ibsen, Sartre und Ludwig Hirsch) oder um Laborratten – immer gelingt es der Autorin, in die konzise, mit journalistischer Akribie rechercherierte Darstellung der zoologischen und historischen Fakten Beispiele aus dem Bereich der Künste einzubauen und auf ihren Faktengehalt zu überprüfen. Das literarische Textmaterial beschränkt sich dabei keineswegs auf rättische Protagonisten wie sie erst in jüngerer Zeit auftreten (Günter Grass, Andrzej Zaniewski), sondern bezieht auch die Ratte in oft drastischen Nebenrollen (Verräterratte, Untergangssymbol) und als Staffage für Milieustudien (Gerhart Hauptmann, Wolfgang Borchert) mit ein. Das ergibt nicht nur interessante Befunde in Bezug auf den undifferenzierte Einsatz kurrenter Ratten-Klischees, sondern auch neue Lektüren, etwa über die wenig artgerechte Haltung von Günter Grass‘ „Rättin“.
Vor allem im Bereich der Grauen- und Horrorvisionen in Literatur (Howard Phillips Lovecroft, Stanislaw Lem, Alexander Grin, aber auch Patricia Highsmith), Film und Comicstrip erfreuen sich Ratten großer Beliebtheit, haben sie doch ihren „ganz eigenen Gruseleffekt“ (S. 181) und müssen – zum Unterschied von Affen, Ameisen und Spinnen – gar nicht erst zu Riesengröße anwachsen, um den richtigen Schauder zu erzeugen. Bei näherer Betrachtung freilich sind diese gut vermarkteten U-Ratten zoologisch selten haltbar und gleichen in ihrem Verhalten, oft auch in ihrem Aussehen mehr Phantasiewesen denn der bei uns heimischen gemeinen Wanderratte. Daneben gibt es – in jüngster Zeit vor allem im Kinderbuch – einen eigenen Strang, der das Image der Ratte ins Positive kehrt und im Anschreiben gegen undifferenzierte Vorurteile etwas Subversives transportiert. Bei aller political correctness ortet die Autorin aber auch hier nicht selten ein gerüttelt Maß an zoologischen Unrichtigkeiten und Mißverständnissen.
Nicht fehlen darf in einer Ratten-Monografie natürlich die oft hoch vereehrte Ratte anderer Kulturkreise (wer im chinesischen Horoskop eine Ratte ist, kann dazu auf S. 205ff. nachlesen), wenngleich man sich dazu, vor allem was die Traditionen der indianischen Völker betrifft, vielleicht ein wenig mehr gewünscht hätte. Als hoffnungsvoller Ausblick – und wohl auch der unmittelbare Impuls für dieses Buch – schließt die Autorin mit der Ratte als Schmusetier, wie sie in jüngster Zeit mit durchaus provokantem Gestus – vergleichbar der literarischen Hochblüte der Ratte im Expressionismus – von jugendlichen Aussteigern entdeckt wurde. Immerhin zählt der Hamburger Rattenliebhaber-Verein mittlerweile mehr als 500 Mitglieder. Das abschließende Glossar mit Rattenkomposita läßt allerdings Zweifel aufkommen, daß die durchwegs negativen Konnotationen in naher Zukunft verschwinden könnten. Der alte Stachel aller Leseratten bleibt wohl weiter bestehen und auch der Bücherwurm ist keine wirklich positive Alternative.
Wer sich rättisch weiterbilden möchte, kann das ausführliche Literaturverzeichnis konsultieren, sei aber auch auf Sabine Krügers 1989 im Verlag Peter Lang erschienene Motivstudie Die Figur der Ratte in literarischen Texten verwiesen, deren umfangreiche Textsammlung auch Heide Platen zur Grundlage gedient haben dürfte. Informationen zu einzelnen Rattenfiguren können auch dem soeben im Eichborn Verlag erschienenen Lexikon berühmter Tiere entnommen werden, wobei allerdings nicht alle erschlossenen Rattenfiguren im Index auch rättisch aufgeschlüsselt sind.