#Sachbuch

Das Reclam Buch der deutschen Literatur

Volker Meid

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

Nach dem „Reclam Buch der Kunst“ und „der Musik“, legt Volker Meid nun das beeindruckende Reclam Buch der deutschen Literatur vor. Auf über 500 Seiten, mit mehr als 600 Abbildungen präsentiert der Band einen Parforceritt durch die Literaturgeschichte vom frühen Mittelalter bis zu Martin Walsers „Tod eines Kritikers“. Ein Unternehmen von dieser Dimension ist immer beeindruckend und wenn dazu noch die editorische Sorgfalt kommt, die man von den Büchern des Reclam Verlags gewohnt ist, bekommt jede kritische Bemerkung von vornherein etwas Beckmesserisches.

Es ist einfach zu billig, nach Lücken und Leerstellen zu suchen, um 1000 Jahre Literaturentwicklung zwischen zwei Buchdeckeln zu bekommen, muss eine rigide Auswahl getroffen werden und manches, was „fehlt“ ist dabei immer auch pragmatischen Ursachen geschuldet: die Rechte waren zu teuer, die Bildvorlage zu schlecht. Diskussionswürdig ist vielleicht das Grundkonzept, das der gesamten Reihe zugrunde liegt und vielleicht ein wenig zu forciert die potentiellen Rezeptionshaltungen junger Leserschichten anspielt.

Gegliedert ist das Buch in acht große Abschnitte, die jahrunderteweise vorgehen, literarhistorische Epochenbegriffe sind in eines der neun Kategorien ausgelagert, die in unregelmäßiger Abfolge, den Bedürfnissen der Darstellung gehorchend, die Abschnitte ergeben. Keine Schubladen, das mag auf den ersten Blick befreiend wirken, doch erstens ist das Prinzip nicht durchgehalten – Abschnitt 7, Zwischen „18. Jahrundert“ und „19. Jahrhundert“ heißt „Revolution und Restauration 1789 – 1832“ – und zweitens greift natürlich auch Volker Meid auf die gängigen Epochenbegriffe zurück, auch wenn er sie in die „Kategorien“-Subkapitel auslagert.

Die neun Kategorien, denen jedes der Kapitel zugeordnet wird, lauten in der Reihenfolge des Registers: Zeitraum, Epoche/Strömung, Autor/Autorin, Poetik Gattung, Stoffe/Themen, Wirkungsgeschichte, Literaturbetrieb, Medien. Wenn man den Aufbau verstehen will, muss man allerdings im „Systematischen Verzeichnis des Inhalts“ nachlesen, denn das Inhaltsverzeichnis selbst verzichtet auf die Zuordnung der einzelnen Kapitel.

Das stiftet Verwirrung, und ein wenig kommt die Vermutung auf, das Konzept des Buches wäre vom Internet aus gedacht worden, wo man sich die Rubriken .gut verlinkt vorstellen kann. Auf die digitale Welt verweist auch die gleichförmige Portionierung der Kapitel: einheitlich zwei Seiten, als unterläge das Buch imaginären Vorgaben wie der Bildschirmseite, die dem User nach der Logik des Mediums die Informationsportion so liefert, dass kein Rauf- und Runterscrollen erforderlich ist. „Die Info-Texte kürze ich noch alle auf eine Bildschirmseite zusammen“, erklärte jüngst ein Germanist bei der Präsentation einer geplanten CD-Rom-Version eines Schriftsteller-Oeuvres. In der produktiven Nutzung der neuen technischen Medien verbergen sich manche Denkfallen, in die man – reflexionslos – allzu leicht hineintappt.

Einem problematischen Modernisierungsdrang verpflichtet ist auch die Bebilderung klassischer Werke und Autoren mit Filmstills oder Szenenfotos von zeitgenössischen Inszenierungen. Die haben in den entsprechenden Kapiteln „Literaturverfilmung“ und „Theaterbetrieb“ ihren Ort, fallen im Autorenkapitel Lessing oder Goethe aber einfach schmerzhaft aus dem Seitenrahmen heraus und nehmen besseren Illustrationen den Platz weg. Denn überwiegend sind gerade die Illustrationen sehr sorgfältig und stimmig augewählt, und darunter finden sich auch viele „intelligente“ Modernisierungsangebote, wenn etwa eine Beardsley-Illustration Gottfried von Strassburgs „Tristan“ beigegeben ist oder eine Collage aus Rolf Dieter Brinkmanns „Rom. Blicke“ den Italienreisenden des 18. Jahrhunderts, oder im Kapitel „Alte und neue Zeit“ ein Eisenbahnmodell für Goethes Enkel zu sehen ist. Nur ganz selten gerät man ins Grübeln: Warum ausgerechnet ein Cover von „Felix Krull“ im Kapitel „Exilliteratur“? Und manchmal vermisst man die Zoom-Funktion des Bildschirms: Friedrich Spees eigenhändige Titelzeichnung zur „Trutznachtigall“ aus seinem Arbeitsbuch von 1634 wäre zweifellos wunderbar, wenn man’s nur besser sehen könnte.

Das Präsentationsprinzip zwei Seiten pro Aspekt, so ist es vielleicht gemeint, kommt den immer kürzeren Aufmerksamkeitsphasen entgegen, die es bei der (didaktischen) Vermittlung von Inhalten einzuplanen gilt. Dazu bedarf es, so die These, auch abwechslungsreicher „multimedialer“ Präsentation. Mit der Übernahme der frame-Kultur in das Buch experimentieren im Moment viele Verlage, die im Segment Literaturgeschichte tätig sind, auch die Rowohlt-Monographien wurden in diesem Sinn redesigned. Es geht nicht immer gut aus. Manchmal überwiegt der Eindruck der Verwirrung und Ratlosigkeit die Lust, in die einzelnen Textsegmente einzusteigen oder sich einen ordnenden Überblick zu verschaffen. (Der Orientierung dienen im vorliegenden Band am besten die am Randschnitt sichtbaren Farbmarkierungen der Abschnitte). Wenn man diese Einstiegshürde überwindet, findet man natürlich auch in den Streifentexten viele Perlen: etwa Casanovas Bericht vom Besuch der Bibliothek in Wolfenbüttel, allerdings schon 1764, Lessing trat sein Amt erst 1770 an.

Das selbstauferlegte Zwei-Seiten-Prinzip hat für den Autor hohe Folgekosten: Manche Themen waren nicht unterzubringen und tauchen dann an verschiedenen Stellen – oft sogar unter verschiedenen Rubriktiteln – wieder auf, andere Themen wieder schafft der Autor auch kürzer und verpackt dafür in das Kapitel noch andere Aspekte. Die neuen Grundkategorien sollen der Orientierung dienen, werfen aber viele Fragen auf. „Flugschrift“ ist unter „Medien“ eingeteilt, „Flublatt und Zeitung“ unter „Literaturbetrieb“ ebenso wie „Antikenrezeption“, während „Griechenland“ zu „Stoffe/Themen“ resortiert; das romantische „Fragment“ ist bei „Gattung“, der „Roman der Romantik“ bei Poetik. Insgesamt am wenigsten überzeugend sind die neun Einträge zur Rubrik Wirkungsgeschichte: Nibelungenlied, Bibel, Sonett, Lenz, Werther, Faust, Büchner, Nietsche und Döblins „Belin Alexanderplatz“. Bei den Autorenporträts war der Autor – wohl notgedrungen – sehr sparsam. Für das 20. Jahrhundert stehen hier Heinrich und Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Günter Grass, Uwe Johnson, Heinrich Böll und Thomas Bernhard. Autorinnen kommen nur im Mittelalter vor: hier halten Roswitha von Gandersheim und Hildegard von Bingen die Sache der Frauen bis ins 20. Jahrhundert hoch. Dafür versteckt sich ein weiterer Österreicher im Kapitel „Gegen den Zeitgeist“ (Rubrik Stoffe/Themen): diese Doppelseite ist ausschließlich Adalbert Stifter gewidmet, dem Volker Meid die Rubrik „Autoren“ dennoch nicht gewähren wollte.

Vielleicht ist es ganz einfach so, dass sich der Eindruck von Durcheinander erst im Zusammenwirken von inhaltlicher und optischer Unruhe ergibt. Das Kapitel „Frauenliteratur – Literatur von Frauen“ (Rubrik „Gattung“) zum Beispiel behandelt im Text Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz, der Streifentext bringt die Vita Ingeborg Bachmanns und das größte Bild der Doppelseite zeigt Irmtraud Morgner.

Natürlich kann das Personenregister zu Hilfe genommen werden, um Autoren nachzuspüren – jene Seitenhinweise, wo der Gesuchte ausführlicher vorkommt, sind fett gedruckt. So findet man leicht, dass Peter Handke im Kapitel „Wiedergewinnung des Verlorenen“ (Rubrik Stoffe/Themen) Unterschlupf gefunden hat. Das ist eindeutig ein netterer Platz als im soeben erschienenen „Literaten-Quartett“ der Edition Nautilus, wo er (gemeinsam mit Ernst Jünger, Michel Houellebecq und Martin Walser) in die Gruppe „Reaktionäre“ verbannt wurde.

Volker Meid Das Reclam Buch der deutschen Literatur
Sachbuch.
Stuttgart: Reclam, 2004.
526 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-15-010521-8.

Rezension vom 05.10.2004

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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