Die Frage nach der Biografie klammere ich (klammert der Rezensent) dann auch aus, obwohl sie im Lesen natürlich nicht ausgeklammert bleibt, nicht ausgeklammert bleiben kann im Bezug auf eine Textsammlung, die sich derart auf „reale“ Begebenheiten beruft, eine Textsammlung, die zwischen „fiktionalen“ und „essayistischen“ (Wo genau ist da der Unterschied? Federmairs Texte sind die besten Beispiele dafür, dass Gattungsgrenzen obsolet sind, dass Texte immer nur teilhaben können an Texten, wie Derrida es formulierte, nicht aber zu einer Gattung gehören können) wechselt. Und doch muss sie speziell in dieser Rezension (wie allgemein in der Literaturwissenschaft) ausgeklammert bleiben, weil jede Beantwortung mehr Fragen aufwürfe, als sie zu lösen in der Lage wäre.
In Bezug auf das „Österreichische“ getraue ich mich vorauszusetzen, dass im Umgang mit der österreichischen Literatur vertraute LeserInnen wissen, welche Themen gemeint sind, wenn ich von den „typisch österreichischen“ spreche, die von Leopold Federmair verhandelt werden, u. a. Katholizismus, Macht, Patriarchat und (Homo-)Sexualität. Und all dies spielt dann auch noch in einem typisch österreichischen Raum, sprich in einem räumlich wie auch geistig durchaus überschaubaren Rahmen. Die Frage nach dem, was den heranwachsenden Internatszöglingen erlaubt ist, wird dabei ebenso diskutiert wie die, was ihnen angetan wurde (sowohl an physischer Gewalt als auch an sexuellem Missbrauch) und auch, was ihnen nicht angetan wurde. „Warum nicht ich?“, so beginnt die erste und titelgebende Erzählung des Bandes.
Diese und ähnliche Fragen sind es, die Federmairs Erzählungen und Essays davor bewahren, mehr als nur eine zusätzliche literarisch/essayistische Ausformung von bereits oft gelesenen, und oft großartigen „Jugend-in-Österreich-Texten“ zu sein. Denn Federmair thematisiert nicht nur so unbequeme Fragen wie jene, warum der Erzähler selbst nicht Opfer sexueller Übergriffe des mittlerweile so berühmt-berüchtigten Paters A in Kremsmünster wurde, unbequem deshalb, weil fast so etwas wie Scham über das „Davonkommen“ zu spüren ist wie auch so etwas wie – noch unbequemer – Unverständnis, selbst nicht begehrt worden zu sein.
Federmair kritisiert auch die Gleichstellung von Homosexualität und Pädophilie, stellt aber auch, in vollem Bewusstsein der Angriffspunkte die Frage, inwieweit eine erotische (nicht unbedingt körperliche, aber doch über die rein geistige Ebene hinausgehende) Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden vielleicht notwendig ist, um wirklich ein guter, ein enthusiastischer Lehrer sein zu können. Diese Frage verbindet die „Österreichtexte“ Federmairs auch mit jenen, die in Japan spielen. Denn unter den Deckmantel von Antisexismus wird zugleich jede Form von sinnlicher Lernerfahrung, von einer lustvollen Lehre und Forschung unterbunden – dabei werden aber die Machtverhältnisse zwischen Lehrenden und Lernenden, zwischen Männern und Frauen etc. keineswegs angetastet. Und schon haben wir uns von „österreichisch“ wegbewegt.
Bleiben noch drei Texte am Ende des schmalen Bandes, die sich von den anderen, die entweder in Österreich (in der Kindheit oder im Blick zurück auf die Kindheit) oder Japan (im Leben des erwachsenen „Federmair“) „spielen“, unterscheiden, und deren Bogen die Frage nach Pädagogik und Erotik, Pädagogik und (Macht-)Missbrauch ist.
Der Text Drei schwule Außenseiter – über Carvaggio, Genet und Pasolini – ist dabei thematisch den anderen Texten durchaus verwandt. Die zwei letzten Texte aber – Freilassing, welcher von der Übergangszeit eines jungen Mannes vom Schüler zum Studenten inklusive einer ebenso schönen wie unüblichen Liebesgeschichte berichtet und der poetischste Text dieses Buches ist, sowie der nur drei kurze Absätze umfassende Epilog im Himmel – fallen komplett aus dem Rahmen.
Im Klappentext werden sie interessanterweise verschwiegen, dort ist davon die Rede, dass der Text Drei schwule Außenseiter das Buch abrunde.
Darum sei, quasi als Nichtbeispiel, als stilistische wie thematische Ausnahme gerade jener Epilog als Leseprobe ausgewählt.