#Sachbuch

Das Spektrum des
literarischen
Expressionismus in den Zeitschriften "Der Sturm" und "Die Weissen Blätter"

Sven Arnold

// Rezension von Hermann Schlösser

Der Expressionismus war – darüber sind sich die meisten Fachleute einig – durchaus keine so einheitliche Bewegung, wie es der Epochenbegriff suggeriert. Denn wichtiger als programmatische Kohärenz und begriffliche Präzision war den Expressionisten allemal der Wunsch nach ungebundenem Ausdruck. Darüber können auch die vielen Manifeste nicht hinwegtäuschen, in denen die Expressionisten sich und der Welt zu erklären versuchten, was ihre Kunst war oder sein wollte. Denn in ihrer ästhetischen Hervorbringung hielten sich die Künstler durchaus nicht sklavisch an die Forderungen, die sie in ihren Programmschriften aufstellten.

Auch Sven Arnolds Dissertation weist an zwei der drei zentralen Zeitschriften des Expressionismus nach, daß allzu stringente Ordnungsschemata dem historischen Material nicht gerecht werden. Insbesondere widerlegt er ein Urteil, das in der älteren Sekundärliteratur häufig anzutreffen ist: Es besagt, daß der Sturm den radikal innovativen ästhetischen Flügel des Expressionismus repräsentiert habe, während in den Weissen Blättern der religiös-humanistische Flügel zu Wort gekommen sei, der sich vor allem während des Ersten Weltkriegs durch sein pazifistisches Pathos ausgezeichnet habe. (Der dritte Flügel in diesem expressionistischen Triptychon würde von der Aktion gebildet, die als Sprachrohr der politisch engagierten „Aktivisten“ angesehen wurde.)

Sven Arnold nun hat den Sturm und die Weissen Blätter gründlich gelesen und ist im Laufe dieser Lektüre zu der – sehr plausbilen – Erkenntnis gelangt, daß diese Zuordnungen zwar im berühmt-berüchtigten Großen und Ganzen zutreffen mögen, im Kleinen und Halben hingegen sehr revisionbedürftig sind. So fand Arnold in den erklärtermaßen pazifistischen Weissen Blättern durchaus auch „Beiträge, die als kriegsbejahend und nahezu chauvinistisch gewertet werden müssen“ und im Sturm, der sich im Gedächtnis der Nachwelt als Publikationsort sprachkritischer Experimente von August Stramm und anderen erhalten hat, stieß er auch auf einen Autor wie Peter Baum, der so altmodisch wie ungeschickt reimte: „Vielleicht sind wir noch einmal springende Funken, / Fische im Netz, das noch nicht im Meer versunken.“ Um diese Reimereien zu veröffentlichen, hätte es keines Sturms bedurft – der sie freilich dennoch druckte.

Da Arnold den Wert der statischen Ordnungsbegriffe sehr in Frage stellt, errichtet er selbst auch keine neuen. Im Laufe seiner ausführlichen und detaillierten Textpräsentationen entwickelt er lediglich ein dynamisches „Spektrum“, innerhalb dessen er alle formalen, inhaltlichen und weltanschaulichen Varianten des Expressionismus ansiedelt. Mag sein, daß dieses Spektrum an seinen Rändern verschwimmt und sich nicht trennscharf von anderen Kunstrichtungen der Zeit unterscheidet. Doch entspricht auch das der verwirrenden Textfülle, die der Sturm und die Weissen Blätter einst ihren Lesern anboten.

Wer sich einen ersten, schnellen Überblick über den Expressionismus verschaffen will, sollte Sven Arnolds Arbeit also eher nicht lesen. Wer aber der Meinung ist, daß die Literatur reichhaltiger und widersprüchlicher ist (und sein sollte) als die Begriffe, die sich die Wissenschaft von ihr bildet, findet in dieser Dissertation reichhaltiges Material, um diese Ansicht zu stützen.

Sven Arnold Das Spektrum des literarischen Expressionismus in den Zeitschriften „Der Sturm“ und „Die Weissen Blätter“.
Frankfurt, Berlin, Wien u. a.: Lang, 1998.
341 Seiten, broschiert.
ISBN 3-631-33549-0.

Rezension vom 29.03.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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