So ziehen die beiden im Haus von Ichiros Eltern auf der südlichen Insel Kyuschu ein, wo Alwina nicht gerade mit offenen Armen empfangen wird. Aber auch Ichiro ist in den Bräuchen und Riten seiner Heimat nicht mehr selbstverständlich zu Hause. Alwina muß feststellen, daß sie am Dialekt der Leute scheitert und daß diese wiederum ihr Schuljapanisch nicht verstehen. Ichiro wird zur einzigen Auskunftsperson. „Endlich konnte sie ihn fragen, warum die Priesterin gelacht hatte über ihre Bitte, nicht im Dialekt zu reden. ‚Es sind einfache Menschen, sie können nur ihren Dialekt. Hätte sie nicht gelacht, hättest du sie beleidigt.'“ (S. 36).
Spätestens an dieser Stelle hätte Marcel Reich-Ranicki bemerkt, daß ihm das Leben in Japan ganz und gar gleichgültig sei, daß ihn einzig und allein diese Liebesgeschichte interessiere. Tatsächlich ist bei Elisabeth Reichart das eine mit dem anderen kunstvoll und untrennbar verbunden. Sie gibt einen sehr genauen, sehr differenzierten Einblick in das japanische Leben, das sich hinter all den Mißverständnissen und Regelverstößen als unzugänglich abzeichnet. Alwina, die Malerin, schaut zuviel, sie starrt die Leute unhöflicherweise an, und sie spricht zuviel, wo bescheidenes Schweigen von ihr erwartet wird. Ohne einem staunenden Exotismus zu frönen, spürt Reichart dem verborgenen Leben der Frauen nach, der „anderen Wirklichkeit hinter den geschlossenen Schiebetüren.“ Die japanische Männergesellschaft, archaisch noch im Süden, westlich unterminiert in Tokyo, bietet ihr die Möglichkeit, dem stumpf und glanzlos gewordenen Thema der Geschlechter doch neue Facetten abzugewinnen. Nur ganz selten ragt allzu Lehrreiches zur Lage der Nation aus dem Fluß der Dialoge.
Das alte Lied von der Liebe, die das Verpflanztwerden nicht übersteht, singt dieser Roman mehrstimmig, mit einer eigenen, reizvollen und anrührenden Melodie. Für Ichiro wird seine Frau – die beiden haben nach japanischem Ritus geheiratet – zusehends zur Bürde. Alwina verliert nicht nur ihr Selbstbewußtsein, sondern auch ihre Fähigkeit zu malen. Hier könnte die Geschichte ein bitteres Ende finden – statt dessen taucht Ichiros reicher Gönner auf und beauftragt Alwina mit einem Fresko. Und dieser zweite Teil ist das Problem des Romans: Elisabeth Reichart treibt hier ein riskantes Spiel mit der Kolportage. Der mysteriöse Auftraggeber entpuppt sich als eine Art Kapitän Nemo, als größenwahnsinniger Beherrscher eines technoiden Unterwasserreiches, mit dem er das Überleben Nippons sichern will. Zwischen Jules Verne und James Bond büßt der Text einiges an Glaubwürdigkeit ein. Ehe sich Alwina so richtig als 007 bewähren kann, muß sie dem Bösewicht beim Harikiri assistieren – und zwar mittels Enthauptung, was sich als zähe Angelegenheit herausstellt. Reichart inszeniert so für ihre Protagonistin einen späten Sieg: Der Samurai ist bei der männlichsten aller Taten auf die Hand einer Frau angewiesen. Jetzt verstehen wir auch, warum im Text immer wieder von Küchenmessern und scharfen Schwertern und von Judith und Holofernes die Rede war. Elisabeth Reichart hätte es dabei und beim Lächeln der Sonnengöttin Amaterasu bewenden lassen und nicht in einem Epilog alles noch einmal erklären sollen.
Für eines gebührt der Autorin auf jeden Fall Respekt: für ihr kompromißlos österreichisches Deutsch, das offenbar auch einem Berliner Verlag zuzumuten ist.