Das Wetter vor 15 Jahren – ein Titel, der zweideutiger ist, als es den Anschein hat – sieht zunächst gar nicht wie ein Roman aus, sondern ist der Form nach ein über 200 Seiten langes Interview, das eine uncharmant „Literaturbeilage“ genannte norddeutsche Journalistin mit dem österreichischen Starautor „Wolf Haas“ über dessen soeben erschienenen neuen Roman führt.
Was mühsam klingt, ist in Wirklichkeit äußerst amüsant: Durch die ebenso schlau ausgedachte wie umgesetzte Dialogform bekommt man als Leser nicht nur eine in bester Haas’scher Manier verrückte Liebesgeschichte serviert, sondern so ganz nebenher auch eine vor Geistesblitzen, Aperçus und kleinen Gemeinheiten nur so sprühende Erzählpoetik. Was diese besonders reizvoll macht: man weiß nie so recht, mit welchem der beiden „Wolf Haas“ – dem Autor oder der Kunstfigur – man es gerade zu tun hat.
„Na gut, dass Sie das nicht im Buch geschrieben haben“ heißt es dann auch seitens der „Literaturbeilage“ angesichts diverser literaturtheoretischer Seitenhiebe, Rundumschläge und Amokläufe, die Wolf Haas seinem Alter ego zugesteht, das unter anderem meint, dass „bekanntlich alles, was mit Literatur zusammenhängt, tatsächlich im 19. Jahrhundert stecken geblieben“ ist. In dem angeregt und teilweise hitzig geführten (Selbst-)Gespräch sind Widersprüche durchaus erlaubt, etwa wenn „Wolf Haas“ einmal begeistert feststellt, dass ihm selbst eine mögliche Lesart des eigenen Textes entgangen ist („Das ist eigentlich super, was Sie da sagen!“), und er dann wieder behauptet: „Dem Leser überlasse ich grundsätzlich nichts.“
Tatsächlich überlässt der Text dem Leser auf diese Weise sogar sehr viel, vor allem die Möglichkeit, sich ein Bild von der Realität des Schreibprozesses in seiner Komplexität zu machen, wie es lebendiger nicht sein könnte. So weiß „Wolf Haas“ selbst nicht immer, welche der vielen Versionen für die eine oder andere Stelle wirklich im fertigen Roman steht, will einerseits keinesfalls „Sklave der Wahrheit“ sein und rechtfertigt sich dann doch damit, dass die Geschichte sich eben so und nicht anders zugetragen habe. Das Spiel mit den beiden Ebenen sorgt für zahlreiche komische Effekte, etwa wenn sich „Wolf Haas“ angesichts der gelegentlich vor Kitsch triefenden Geschichte mit „Originaldokumenten“ rechtfertigt, denn: „Das sind natürlich Sachen, die traut man sich normalerweise nie schreiben.“
Geradezu genial wird das Spiel, wenn es nicht nur auf der Meta-Ebene funktioniert, sondern auch auf der Ebene der Geschichte, über die sich Autor und „Literaturbeilage“ unterhalten und die sie auf diese Weise in einer Art Doppelconférence zunehmend fesselnd erzählen. „Wolf Haas“ schildert etwa die Schwierigkeiten bei der Darstellung der weiblichen Hauptfigur, in die er vernarrt ist, so anschaulich, dass dabei im Leser tatsächlich das Bild einer schönen Frau entsteht, ohne dass der Autor dafür „zum verschwitzten Lustmolch vor seiner Tastatur“ mutieren muss. Als sich die „Literaturbeilage“ über die ausführliche Beschreibung eines Hochzeitskleides beschwert, die das Finale der Erzählung ihres Erachtens zu lange hinauszögert, erklärt ihr „Wolf Haas“ seine Beweggründe dafür derart langwierig, dass nicht nur für fiktive, sondern auch für reale Leser der Geschichte die Spannung nur noch schwer auszuhalten ist.
Überhaupt, diese Geschichte: Der Spagat zwischen mal gelehrtem, mal emotionalem literaturtheoretischem Gespräch und Literatur selbst gelingt Haas meisterhaft. Aus einer an sich banalen Situation – deutsches Urlauberkind verliebt sich in Österreich in einheimisches Mädchen – macht er eine ebenso berührende wie verrückte Liebesgeschichte, die von der verschämten Teenagerliebe über die Betrügereien der Eltern bis zu Silbersternchenorgasmus (Schutzumschlag lüpfen!), erstem Kuss in der Intensivstation und finalem Vulkanausbruch nichts auslässt. Die Mischung aus Frechheit und Sensibilität, mit der sich Wolf Haas in seine Figuren denkt, vor allem in den „Abbauingenieur“ aus dem Ruhrgebiet, der Stollen stilllegt und mit der „Bürgerinitative Bodenlos“ zu kämpfen hat, sich leidenschaftlich für Wetterberichte interessiert und die übrige Menschheit in „Wetter-Normalverbraucher“ und solche mit „echter Vorfühligkeit“ einteilt, ist genauso brillant wie Wortschöpfungen à la „Spürterror“, auf die Wolf Haas mit und ohne Anführungszeichen wohl zurecht stolz ist.
Und auch die verwaisten Brenner-Fans kommen bei dem Roman auf ihre Rechnung: Dass das Nachdenken über das Wetter bei Wolf Haas eine gewisse Rolle spielt, dürfte diesen jedenfalls genauso vertraut sein wie sein Hang zu nicht sonderlich realistischen Geschichten, zum Erfinden althergebrachter Sprichwörter und zu drastischen Unterbrechungen von katholischen Gottesdiensten. Wer nach dem „Wetter vor 15 Jahren“ wieder einen „Brenner“ zur Hand nimmt, wird so manche Parallele bemerken, die den neuen Roman auf raffinierte, oft schräge Weise mit den vorangegangenen in Beziehung setzt.
Irgendwie gemein ist dann natürlich, dass sich „Wolf Haas“ über sogenannte „Ostereiersucher“ lustig macht, die Texte nach Anspielungen und Bezügen abklopfen. Wie auch immer, oder besser: So what? – Sollte Wolf Haas‘ neuer Roman tatsächlich eine „Kampfansage an die Rezensenten“ sein, wie die „Literaturbeilage“ misstrauisch vermutet, dann war Verlieren noch nie schöner.