Erika Wimmer Mazohl bezieht in ihren Texten einen anderen Standpunkt: Nicht von außen und von fernher fällt das Licht auf das zu spiegelnde Objekt, sondern aus der unmittelbaren menschlichen Begegnung: „ich bin die andere seite/ das zweite gesicht/ bin die tränen/ deines gelächters“, heißt es auf Seite 17 im Gedicht „ambivalent“. Nicht das bloße Abheben und Fliegen, sondern der Dialog zwischen Annäherung und Abwendung machen ihre Texte aus. Beschrieben wird die Suche nach Licht und Schatten, nach dem ersten Gesicht, dem zweiten Gesicht und schließlich nach den Spiegelbildern auf der Suche nach dem Ur-Bild hinter allen Spiegeln.
Am Anfang war das Ereignis: der lang andauernde Konflikt zwischen Ghibellinen und Guelfen. In der Reflexion durch Dante Alighieri wurde daraus die Divina Commedia. Als Spiegelung in Worten entstand das Werk des vor 700 Jahren verstorbenen Dichters, von dem gesagt wird, er habe die italienische Sprache als Schriftsprache begründet. Sein Opus Magnum hat zahlreiche Künstler zum Illustrieren angeregt, dazu also, das durch ihn sprachlich gespiegelte Bild zeichnerisch widerzuspiegeln. Bald nach ihm (zwischen 1480 und 1500) tat dies Sandro Botticelli. Dessen insgesamt 93 Zeichnungen gelten zwar als „treue Nacherzählungen des Textes“, gehen über diesen aber hinaus. Dies ist festzuhalten, wenn man „hinter die Spiegel“ schaut: Künstler wären nicht Künstler, würden sie, was sie sehen, als eine mit Metall beschichtete Fläche widerspiegeln. Der Künstler schaut mit eigenen Augen vom eigenen Standpunkt aus und verschiebt ständig den Blick, sodass der Spiegel zum Zerrspiegel wird. Nur so kann Neues entstehen, ansonsten – durch eine bloß parallele Anordnung von Spiegelflächen – entstünde eine ins Unendliche gehende nicht endende Reflexion als Horrorvorstellung.
Da die aus der Divina Commedia hervorsteigenden Wahrheiten zeitlos sind, tut es nichts zur Sache, dass die geschilderte mittelalterliche Welt längst untergegangen war, als Joseph Anton Koch, Gustave Doré, William Blake, Pitt Koch (als Fotograf), Johann Kluska und – der Südtiroler Maler und Radierer Markus Vallazza (1936-2019) sie in Bildern wiedergaben. Von Vallazza, der zehn Jahre lang in die Göttliche Komödie eintauchte, sagt Gabriele Belli, an einigen Stellen seiner Erzählung in Bildern sei die Interpretation durch ihn eindringlicher und einprägsamer als das, „was die Prosa der großen Meister selbst uns hat übermitteln können“.
Die Spiegelung des solcherart Gespiegelten nimmt Erika Wimmer Mazohl an Vallazzas Skizzen in Form von „Psychogrammen“ und „Kopfgeburten“ wahr. Da sie im Buch in wundervoller Druckqualität auf den Seiten 80 bis 97 enthalten sind, können wir ahnen, was die Schriftstellerin darin gesehen haben mag, wenn wir lesen, was sie daraus macht. Wie in der bildenden Kunst dienen auch ihr die Skizzen als Grundlage, als Vorzeichnung, die die wesentlichen Eindrücke enthält. Skizzenbücher (man erinnere sich an Leonardo da Vinci oder Edgar Degas) können per se Kunstobjekte sein. Manchmal werden diese Skizzen übermalt – Erika Wimmer Mazohl tut dies mit Worten.
Ihre Texte gliedern sich entlang der Bilder in die Skizzenhefte „Hölle I“, „Hölle II“ und „Hölle III“. Vallazza gibt dem Betrachter stets neben seinem Bild auch ein Stichwort, so etwa: „inquisitorisch“, „janusköpfig“ oder „tonangebend“. Das Aufnehmen und Interpretieren des Stichworts ist Wimmer Mazohls Schreibanlass „damit der Zusammenhang bestehen bleibt“, wie sie im Nachwort schreibt. Die einzelnen Abschnitte erfahren durch strukturgebende Überschriften (z.B.: „atomar – äolisch – schwärmerisch – kubistisch“) eine Subgliederung.
Den Auftakt bildet eine Hommage an den ihr seit dem Jahr 1990 bekannten Vallazza, mit dem noch zu seinen Lebzeiten ein lyrischer Dialog geplant war: Das „nichtgedicht“ bezeichnet „poesiekunst“ als „antrieb/ motoren ganz ohne ziel/ glückhaft/ verheißen sie namenloses…“ Auf rund 130 Seiten in liebevollem Drucksatz steht diese Verheißung schwarz auf weiß da. In einem informativen und gleichzeitig menschlich-berührenden Nachwort geht Günther Oberhollenzer auf Leben und Werk Vallazzas und besonders auf den künstlerischen Prozess ein, durch seine Dante-Interpretationen „ein persönliches, zeitloses Welttheater“ zu schaffen.
Erika Wimmer Mazohls Schreiben ist ein Zurückschauen, als arbeite sie sich, Schicht um Schicht abtragend, unter der von Markus Vallazza gezeichneten Welt zurück zu der des Dante Alighieri und bruchstückhaft auch in dessen Sprache, denn es ist auch ihre Sprache: Wenn etwa die „silben [taciturno“] bezeichnet werden als „farbig gegliedert und zart/ belichtet aus namloserquelle/ e vengonorimangono/ unendlich konturen und formen/ entstehen und bleiben rotieren“.
Ihr Schreiben ist ein Hindurchschauen, wenn sie den bei ihm beschworenen 600 Seelen aus Mythologie, Dichtung und Geschichte begegnet und über rein verstandesmäßige Analyse hinausgehend in einer Art feinstofflicher Betrachtung des Universalschicksals zum „Menschen schlechthin“ gelangt. Auf Seite 71 begegnet uns eine grübelnde Frau („pensierosa“, bei Vallazza war es ein Mann) auf der Bank, die für uns Menschen steht: „gemeinsam/ auch einsam/ der zeit/ die sie war/ ergeben“…
Aber darüber hinaus ist ihr Schreiben auch eine Verengung: Der „Mensch schlechthin“ ist man doch auch selbst. Und an dem Punkt angelangt, ist alles möglich, da hebt das Erzählen an. Das Einzelwesen ist – im wörtlichen Sinne – das In-dividuum (das Unteilbare), aber doch das Mitteilbare. Hier widmet sie etwa Luigi Fieni den Text „punktiert“ (Seite 128): Er, der sich seit über 20 Jahren der Restaurierung uralter tibetisch-buddhistischer Klöster in Mustang, Nepal widmet und diese nicht als Museen, sondern als Orte für Menschen sehen will, ist Bedeutungsträger für die Botschaft „geometrisch mag die wirklichkeit sein/ doch kein ornament zum schmuck degradiert/ ist streng funktional unsre richtige welt“.
Und ihr Schreiben ist ein Assoziieren: Beginnend mit der Urkraft und Urlast der eigenen Körperlichkeit gelangt Wimmer Mazohl über das Ich in die Gesamtheit von Raum, Zeit und jeglicher Materie und Energie darin. Es scheint, als ob sie uns sagen wollte: „Alles geht mich an, alles hat mit mir zu tun“ – etwa, wenn dem Kopflastigen auf Seite 105 die Frage gilt „weinst du jetzt etwa?/ ich kraul dir den nacken/ was wohl tut/ sachte/ die schultern sinken…“
Immer aber bleibt das Spiel mit Sprache und dahinter der erschreckende Ernst, der uns verstummen macht, wenn sie in „maskiert“ auf Seite 120f mit der Schreibhand auf „ellaellapullopultsch/ ist ein hanswurst und lügt“ zeigt und uns daran erinnert „kein tumber tauscht die maske/ keiner wills gewesen sein“.
In meisterlicher (vexier)spiegelbildlicher Textarbeit ist das Buch Das zweite Gesicht. Gedichte zu Dante-Miniaturen von Markus Vallazza, erschienen im März 2021 im Limbus-Verlag, eine gute Möglichkeit, Überdauerndes zu schaffen. Die Begegnung als eine Spiegelung des widergespiegelten Spiegels im Spiegel lohnt sich, weil dabei jede/r Lesende seinen/ihren Standpunkt einnehmen kann.