#Prosa

Das zweite Schwert

Peter Handke

// Rezension von Walter Wagner

Peter Handkes jüngster Prosaband hebt an mit einer Widmung an den langjährigen Lektor Raimund Fellinger und einem kryptischen Zitat aus dem Lukas-Evangelium, in dem Jesus seine Jünger auffordert, sich mit einem Geldbeutel oder, in Ermangelung dessen, einem Schwert für die Zeit nach seiner Hinrichtung zu rüsten. Dass die Apostel nicht aufgerufen sind, Rache an ihren Feinden zu üben, darf vorausgesetzt werden. Nicht so bei Handke, dessen Ich-Erzähler eines Morgens beim Blick in den Spiegel das Antlitz eines Rächers gewahrt.

Zweifellos ist es an der Zeit, wie der Protagonist befindet, „die längst fällige Rache zu exekutieren“ und folglich wieder einmal aufzubrechen, wiewohl er erst drei Tage zuvor von einer längeren Reise ins nördliche Frankreich heimkehrte. Für seinen „Rachefeldzug“ gegen eine Journalistin, die seine Mutter einst als Nazi-Sympathisantin verunglimpfte, schlüpft der Schriftsteller in einen Dior-Anzug, ergreift die Reisetasche und verlässt ohne Zaudern sein Pariser Vorortdomizil. Abermals unterwegs, besinnt er sich auf die vergangenen drei Tage als eine Ansammlung von Begegnungen und Gesprächen mit Nachbarn und Bekannten, von Wahrnehmungen und Wachträumen, über die der Autor en passant berichtet.

Während der auf Vergeltung sinnende Protagonist sein Haus verlässt und sich dabei einer „ungeahnten Ortsfreude“ gewahr wird, branden das Rauschen der nahen Autobahn, der Lärm vom Militärflugplatz und quälendes Hundegebell an die Ufer der Erinnerung. Ebenso wird, die bewaldeten Hügel allmorgendlich im Blick, die Landschaft als subjektive Topografie bewusst vermessen, gleichsam um sich des eigenen Standorts in der vertrauten Fremde zu vergewissern. Vertraut sind wohl auch die wenigen Unterstandslosen, die in einem ehemaligen Hotel nun Obdach und Bleibe gefunden haben und auf der Freitreppe ihre kuriosen Versammlungen abhalten. In der ebenso unspektakulären „Bar der drei Bahnhöfe“ trifft der stets wache, neugierige Erzähler auf Leute verschiedener sozialer und nationaler Herkunft, Männer und Frauen also, die sich im Lokal, mit Bier und Bildschirm versorgt, zum zwanglosen Geplauder und leidenschaftlichen Disput einfinden. Der tiefsinnige Manager aus dem Finanzviertel von La Défense taucht dort nach Feierabend ebenso auf wie der einsame Karosseriemaler Manu, den Handkes Alter Ego rundheraus fragt, ob er bereit sei, für ihn einen Mord zu begehen. Die rhetorische Frage wird ernstgenommen, weil Verleumdung und Ehrabschneidung nicht als Kleinigkeiten abgetan werden können und, wenn es um die Mutter geht, keinerlei Nachsicht dulden. Aber der Schriftsteller wird selbst zur Tat schreiten müssen, wie ihm die Umstehenden illusionslos mitteilen, womit der Entschluss, sich fortzubegeben, unaufhebbar erscheint. Vergeltung ist mithin zu üben, und zwar für das von Zeitungen begangene Unrecht, das der Protagonist als die übelste Form von Gewalt entlarvt, wenngleich selbst er einbekennen muss: „Dann und wann habe ich mich auch schuldig gemacht und sie ausgeübt, mir nichts, dir nichts. Ja, Gewalt war in ein paar meiner Taten wie, auf andere Weise, und weit öfter und heftiger, meinen Worten gewesen.“

Und so macht sich der Erzähler auf den Weg, nimmt die Straßenbahn und fährt durch den Ballungsraum von Paris mit der klingenden Bezeichnung Ile-de-France, um an der Endhaltestelle auszusteigen und zu Fuß weiterzuziehen. Erst ein drängendes Hungergefühl zwingt ihn schließlich dazu, die romantische Reise mit einem Taxi fortzusetzen. Ziel ist Port-Royal-Champs, wo sich die spärlichen Überreste des gleichnamigen Klosters, einst jansenistische Hochburg, befinden. Blaise Pascals Schwester wirkte im 17. Jahrhundert an diesem Ort, zu dem der Erzähler ein ebenso freundliches Verhältnis unterhält wie zu den Gedanken des Mathematikers und Philosophen, den schon Johannes Freumbichler und Thomas Bernhard zu schätzen wussten.

Nach ausgedehnten und eigentlich endlos erscheinenden Augenblicken des „Schlafens und Träumens in der Pascalschen Abgeschiedenheit“ kehrt der Protagonist zurück an den Ausgangspunkt und ist zugleich um eine Einsicht reicher: dass es nämlich nicht mehr nötig sei, gegen die Mutterverleumderin vorzugehen, denn „sie und ihresgleichen gehörten nicht in die Geschichte“ und sind, ins Tal des Schweigens verbannt, somit hinlänglich gestraft.

Der Schriftsteller als oberster Richter und Rächer, ausgestattet und versehen mit der Allmacht des Wortes, entscheidet bei Handke, was Anspruch auf Wahrheit und Dasein erheben darf. Diese poetologisch fundierte Vollstreckung des Urteils bedarf freilich weder der Fiktion noch der Phantasie, wie der Autor im Essay „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ 1967 programmatisch verkündet. Geschichten brauchten demnach nicht mehr erfunden, sondern lediglich erzählt zu werden. Das zweite Schwert beweist insofern einmal mehr die Stichhaltigkeit dieses frühen Plädoyers für einen Realismus, der die hohe Kunst des Erzählens unabänderlich in den Mittelpunkt einer Literatur als Weltbildung rückt und den man im deutschsprachigen Raum immer noch mit Peter Handke assoziiert.

Peter Handke Das zweite Schwert
Eine Maigeschichte.
Berlin: Suhrkamp, 2020.
158 S.; brosch.
ISBN 978-3-518-42940-2.

Rezension vom 27.02.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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