#Roman

DAVE

Raphaela Edelbauer

// Rezension von Julius Handl

„Ich esse keine Schokolade“, sagte ich. „48 Gramm Zucker pro 100 Gramm. 38 Prozent höheres Risiko für Herzkreislauferkrankungen und eine Verkürzung der Telomere, was zu schnellerer Zellalterung führt. Weniger zerebrale Leistungsfähigkeit.“

Wem diese Essensplanung ein wenig extrem scheint, der/die arbeitet vermutlich nicht an der Überwindung der Conditio Humana durch die künstliche Superintelligenz. Für dieses Ziel, ein künstliches Bewusstsein von kaum erfassbarer Überlegenheit, geht man schon mal über die eine oder andere Grenze. Dabei arbeitet der Programmierer und Schokoladenverweigerer Syz zu Beginn des Romans noch relativ entspannt an seinen SCRIPTs und ist nicht so ehrgeizig wie sein Freund Pawel zum Beispiel. Pawel hat es sich zur Aufgabe gemacht, zügig in der strengen Hierarchie des Labors aufzusteigen, in dem sie alle gemeinsam leben und arbeiten. Fernab der unbewohnbar gewordenen Erdatmosphäre verläuft die würfelförmige Konstruktion hauptsächlich unterirdisch. Im Zentrum dieses Komplexes: DAVE, ein Supercomputer, dem, schon fast fertig, nur noch die entsprechende Persönlichkeit zur wahrhaftigen KI fehlt. Alles scheint sich entlang der Möglichkeiten und Bedürfnisse von DAVE auszurichten, Effizienz, Logik und eine Art sterile Gefühlskälte sind die dominierenden Merkmale dieser Gesellschaft. Poster schmücken die Gänge des Instituts mit Aufschriften wie „47 Nachrichten schreibt sich das durchschnittliche Paar am Tag – Zeit, die Sie besser nutzen können“. Dies ist Syzens Welt, in ihr ergänzen sich hyperkapitalistische Effizienz und technokratische Ersatzreligion zum „perfektplatonischen“ Forschungswürfel.

Teilte man diesen Würfel jedoch in seine nach dem Timaios vorgesehenen elf Raumnetze, müsste man bemerken, wie die Makellosigkeit zur Makulatur würde: Keine Symmetrie, die dem äußeren Gleichmaß ein ebenso wohltemperiertes Inneres beigefügt hätte. Allein das Gebäude zu erkennen, verlangte höchste Abstraktionsfähigkeit: Denn dazu hätte man die 118 998 Menschen ignorieren müssen, die durch es wogten wie die Verkräuselungen eines Wimmelbildes. Es war ein flimmernder Bienenstock, der sich in eine Unendlichkeit von Kammern, Gängen und Windungen auffächerte.

Inmitten dieses Bienenstocks sitzt in DAVE keine Königin, sondern ein Institutsvorstand mit dem Namen Fröhlich. Er holt Syz aus seinem Trott als Programmierer und sorgt für die sich rasch ausbildende Sogwirkung des Romans. Syz wird auserwählt, mit seiner Persönlichkeit in Sitzungen, die beinahe wie Therapie wirken, für DAVE Modell zu stehen. Parallel zu Syz‘ neuer Bestimmung wächst die Skepsis gegenüber dem Labor und seiner engen Struktur heran, er beginnt Nachforschungen anzustellen. Dieser Spagat zwischen seiner Rolle als dem Auserwählten und dem Zweifler droht Syz immer stärker zu zerreißen und öffnet gleichzeitig für Edelbauer den Raum, ihre Leser:innen mit abstrakten Gedankengängen zu fordern. Im Zentrum steht dabei die Frage, was Bewusstsein eigentlich ausmacht und inwiefern es DAVE überhaupt möglich ist, mehr zu sein als eine unglaublich leistungsfähige Rechenmaschine. Ein wiederkehrendes Element dieser Reflexion sind in etwa die sehr spannenden Überlegungen zur „Ars Memoria“, die verschiedenen Methoden, enorme Mengen an Information in kurzer Zeit zu speichern. Wer aufmerksam „Sherlock“ verfolgt hat, wird den in DAVE häufiger erwähnten Memory-Palace bereits kennen, die vorgestellte PAO-Methode funktioniert ähnlich, bloß macht sie den mit Erinnerung gefüllten Palast noch deutlich lebendiger.

Der Unterschied zur konventionellen Loci-Methode ist die Lebendigkeit dieses inneren Palastes – keine leblosen Erinnerungsobjekte bevölkern ihn, sondern brabbelnde, fleischliche Gestalten. Das Wissen, das in dieser veräußerlichten Innenwelt entsteht – die Vertrautheit mit den eigenen Figuren -, steigert die Gedächtnisleistung umso mehr, je intimer die Geheimnisse sind, die man mit ihnen teilt.

Auch für den Plot werden diese latent unheimlichen Gedanken von der Welt in der Welt relevant, womit der Roman in die Nähe von früheren Werken wie Daniel Galouyes Simulacron-3 oder auch den Matrix-Filmen rückt. Wie schon in Edelbauers Vorgängerroman Das flüssige Land stehen sie als Einschübe typografisch abgesetzt neben der Erzählung, sind jedoch eng mit ihr verbunden. Das tut auch dem Diskurs um künstliche Intelligenz gut, dessen Komplexität heruntergebrochen und gleichzeitig aus jenem popkulturellen Planschbecken gehoben wird, das derzeit wild twitternde Silicon-Valley-CEOs (wie Elon „Wir leben in einer Simulation“ Musk) besetzt halten. Das Resultat ist eine anspruchsvolle Erzählweise und es tut gut, DAVE mit viel Aufmerksamkeit zu begegnen, um nicht zwischen Erzählung und Wissenschaft verloren zu gehen. Der Plot selbst ist grundsätzlich wenig fordernd und entwickelt sich eher entlang bekannter Muster aus dem Sci-Fi-Universum, hebt aber nach einiger Zeit durch die enge Verbindung zum philosophischen Hintergrund in äußerst spannende Höhen ab. Dabei kommt eines der sprachlichen Hauptmerkmale des Romans zum Vorschein, das ganz passend auch seiner Wissenschaftlichkeit in die Hände spielt.

Nach starken Kontroversen hat sich in den letzten Jahrzehnten die Methode eines Formalismus von Entscheidungsbäumen durchgesetzt, besser bekannt unter dem Namen „SCRIPTs“. Eine starke KI, so die dabei vorherrschende Meinung, muss ein von Marvin Minsky als „Komplettierungsschwelle bezeichnetes Mindestmaß an abrufbarem Weltwissen besitzen, um intelligent genannt werden zu dürfen.

Die Strenge die in Syz‘ Labor herrscht, die enge Verschränkung von Reflexion und Erzählung, die Präzision der Wissenschaft, sie alle schlagen sich auch in der Sprache nieder. Diese ist äußerst fein bemessen und wirkt, als säße nirgendwo ein Gramm Wort zu viel. Die Sätze sind auffällig geschraubt und konstruiert, was einerseits die Stärken des Romans hervorhebt und gleichzeitig seine größte Schwäche ist. Manchmal wirken Beschreibungen spröde, wenn ihr Klang zugunsten des präzisen Ausdrucks zurückstecken muss. Besonders die vielen Fachausdrücke und Fremdwörter tragen dazu bei, dass die Welt von DAVE, die sich ohnehin durch ihre Kälte auszeichnet, in der Sprache einmal mehr wie eine funktionelle Maschine wirkt. Doch der Klang passt schließlich, auch wenn es in den Sätzen manchmal knirscht wie bei einem Crashtest. Die Dialoge entwickeln aus dieser Präzision eine unglaubliche Dynamik und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich: „Das Eingebettetsein in eine Welt, das Übergehen in sie – das ist, was organisierte Handlung erst ermöglicht. Bleiben Sie aufmerksam bitte – „. Vielen Figuren, wie dem eben zitierten Fröhlich, wird zudem eine sympathisch-tiefgründige Hintergrundgeschichte zuteil, die sie lebendig werden lässt und uns an die Menschen hinter der Maschine erinnert.

Ich erkannte das Gefühl wieder, obwohl ich es seit Jahrzehnten nicht empfunden hatte – eine Wärme, eine Handbreit unter meinem Brustbein, die sich gegen meinen Magen rieb. Eine unbestimmte Sehnsucht, wie ich sie als Kind empfunden hatte, wenn ich Liebesszenen in Disneyanimationen sah.

Dreimal, erwähnte Raphaela Edelbauer in einem Interview, musste sie DAVE insgesamt schreiben, bis die Version entstand, die Ende Jänner im Klett-Cotta Verlag erschienen ist. Das scheint sich gelohnt zu haben, denn die Literatur im Bereich der Science-Fiction (das darf hier ganz wörtlich genommen werden), die einerseits kunstvoll erzählt ist und gleichzeitig hohe Ansprüche an ihr Publikum stellt, ist überschaubar. Erst recht in Österreich.

Raphaela Edelbauer DAVE
Roman.
Stuttgart: Klett-Cotta, 2021.
420 S.; geb.
ISBN 978-3-608-96473-8.

Rezension vom 07.04.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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