Als sprach- und damit gesellschaftskritische Schrift parodiert und ironisiert de chamälaeon in seiner Aufmachung und in den Artikeln ein breites Spektrum an Textsorten, vor allem Periodika: Mal nimmt es die Farbe eines Intelligenzblattes aus der Zeit der europäischen Aufklärung an, mal die einer kleinformatigen Verdauungshilfe, die sich für „das Beste“ ausgibt, mal die eines Katalogs einer Möbelhaus-Glaubensgemeinschaft, die dir das Du auf die Schulter klopft, mal die eines Flugblattes, da und dort die eines Glossars, in weiten Passagen die einer Literatur- und Kulturzeitschrift.
Schon mit dem Titel de chamälaeon werden Magazine kritisch vorgeführt, und zwar solche, die ihre Blätter konformistisch nach dem Wind hängen, Mode machen und nach der Mode gehen. Zugleich verrät er das ästhetische Programm: Einem Chamäleon gleich erfolgt im Buch die Annäherung an verschiedene vorgeformte sprachliche Strukturen und Genres wie wir sie aus Zeitungen, Zeitschriften, Ratgebern und Katalogen kennen, um sie mit dem Prinzip der Fehlkopie literarisch zu brechen: Durch Über-Assimilierung an die Textumgebung und Verzerrung der Textstrukturen durch Über-Affirmation wird die Beschaffenheit dieser Textmuster gleichsam in Nahaufnahme bloßgelegt.
Ausgegangen wird von der Sprache: Um die patriarchalisch verhunzte Sprache, das „dschändadeutsch“, möglichst geschlechtsneutral zu gestalten, entwirft Lisa Spalt das „chamälidiom“, das vor allem an der Wortbildung und Flexion ansetzt. Diese chamälidiomatische Grammatik umfasst ein paar wenige, aber umso wirkungsvollere Modifikationen der herkömmlichen deutschen Grammatik, die im Schnellkurs problemlos gelernt werden können und zur eigenen Weiterentwicklung anregen sollen: Nach englischem und umgangssprachlichem Vorbild wird der Einheitsartikel „de“ eingeführt. Bei zu deutlicher Geschlechtlichkeit werden die Endungen von Wörtern weggelassen – „streck“ statt „strecke“. Statt des Genitivs werden Konstruktionen mit „von“ gebildet. Bezeichnungen mit der Nachsilbe „-er“ werden durch partizipiale „-end“-Fügungen ersetzt – „de laufend“. Aus klanglichen Gründen wird „dich“ zu „di“ verkürzt und „sich“ zu „si“, ebenso „euch“ zu „ü“. Adjektiva werden nicht dekliniert, Substantiva bilden keine Plurale. Nach tschechischem Vorbild wird die Schreibweise vereinfacht und an die Aussprache weiter angenähert. Das „Chamälidiom“ ist, wie Lisa Spalt selbst sagt, „ein sprachlicher Herrenanzug, den eine Frau von innen heraus verbeult.“
Durch dieses Verfahren wird jede Anpassung an Moden analytisch umgekrempelt. Dabei entstehen politisch pointierte Texte in einer überaus vergnüglich zu lesenden Sprache, die teilweise auch an die in Ernst Jandls „Gedichten in heruntergekommener Sprache“ oder in Petra Coronatos tongue tongue Hongkong-Projekt erinnert sowie – verstärkt durch den bewusst einfachen Satzbau – an Kindersprache, zu verstehen als ein Versuch, die kindliche Sprache zu retten und einem ritualisierten und institutionalisierten Kunstverständnis entgegenzusetzen. Thematisiert werden Paradoxien in Natur und Gesellschaft, die kapitalistischen Auswüchse auch im Literaturbetrieb werden satirisch auf die Schaufel genommen („all schreibend von 38 bis 55 nennen si gleich ‚dieter boolen'“, S. 7), politische Vorschläge werden gemacht, wie das Verklagen der Politiker gemäß dem Verbot der irreführenden Werbung (S. 25).
Illustrierte sind im Allgemeinen angefüllt mit Werbung. Im chamälaeon werden die Werbeeinschaltungen visuellpoetisch vielschichtig und kritisch ausgeleuchtet und begrifflich pointiert zugespitzt, beispielsweise zum „blickfang“ mit Copyright, zu einem durch Austausch der Lettern „f“ am Wortanfang und „ck“ am Wortende geschmeidig gemachten Produktnamen „viq“, möglicherweise das Logo eines Pharma- oder Kosmetikartikelkonzerns, durch das in einer Laufleiste die Namen einiger europäischer Metropolen ziehen, zu einem Ypsilon, flankiert von jeweils drei Punkten, das Chromosom, einen Blusenausschnitt oder einen Zippverschluss stilisierend. Um jede Gefahr, selbst in Ikonizität zu erstarren, auszuschalten, werden die visuellpoetischen Arbeiten durchwegs handschriftlich erweitert und kommentiert.
Als Gimmick ist dem Buch ein gelber Bestellschein beigelegt, der LiteratInnen jeder poetischen Richtung die passende Ausrüstung anbietet, um den Heiligenschein garantiert zum Leuchten zu bringen: Vom „komplett schriftsatz MARSCH’L ARTS für de männlich schreibmaschin mit de integriert warnschuss an de end von jed zeile“ über das „globusförmig milchzuckerpräparat OMPIR“, das die „poetisch potenz“ fördert bis zum „schreibtisch HOUMTRÄN“ mit „ethos-smash-effekt“ sowie „WOLK für de weißraumerzeugung um de vers herum“.
Das Buch trägt auf dem Cover eine Sonnenbrille. Beim Aufschlagen erweist es sich tatsächlich als wirkungsvoller Blendschutz gegen eine allzu strahlende Welt, als Wahrnehmungsfilter, der Konturen sichtbar macht. Die Nichtlinearität menschlicher Wahrnehmung und die Vermeidung von poetischen Verfahrensweisen, die eindimensional Linearität suggerieren, ist ein zentrales Thema und Anliegen in Lisa Spalts Werk, so auch in de chamälaeon. Alles in allem ein äußerst unterhaltsames und erhellendes Buch, das dazu einlädt, immer wieder darin zu lesen und auf Entdeckungsreise zu gehen – prodesse et delectare im besten Sinne. Und für de zehnmal lesen von de chamälaeon du erhältst de chamälaeon lesend-preis!