Man darf sich auf keinen Fall abschrecken lassen von den wiederholten Verweisen der diversen Vorbemerkungen – sowohl der Reprintausgabe wie des Verfassers und des Übersetzers Felix Hübel für die deutsche Erstausgabe von 1902 -, es handle sich hier um ein Fachbuch zur Buchbindetechnik und Einbandkunst. Natürlich wendet sich Cockerell, Schüler von Thomas James Cobden-Sanderson, der mit seiner (auf Anregung von William Morris) 1900 gegründeten „Doves-Press“ neue Maßstäbe für die Kunst der handwerklichen Buchherstellung setzte, primär an ein Fachpublikum. Aber was den heutigen Leser erwartet, ist alles andere als ein trockenes Handbuch. Vielmehr verfolgt man den minutiös und Schritt für Schritt beschriebenen Herstellungsprozeß fast mit kriminalistischer Spannung. Selbst die immer wieder zwischengeschalteten Abschweifungen mit ausführlicher Diskussion des Für und Wider bestimmter Werkstoffe, Materialien und Verfahrensweisen sind interessant zu lesen. Das liegt nicht an der Sprache Cockerells, die durchaus dem nüchternen Duktus des Lehrbuchs entspricht. Es ist ganz einfach das Gefühl, der Enthüllung eines Geheimnisses zu lauschen bei der Schilderung dieses langwierigen und kunstvollen Entstehungsprozesses von den lose gestapelten Druckbögen bis zum gebundenen Buch mit (Gold-)Prägung, Farbschnitt, Kapitalbändchen, versenkten oder sichtbaren Rückenbünden, eingeschnittenen Vorsatzpapieren usw. Es ist eine enorme Vielzahl von Arbeitsschritten, die je eigene handwerkliche Fähigkeiten erfordern, und über die selbst passionierte Buchliebhaber selten genauer informiert sind. Hand aufs Herz, wissen Sie wie Vorsatzblätter eingepaßt werden müssen, damit sie der Spannung beim Öffnen des Buches willig folgen? Wie das Heften der Lagen an der Heftlade funktioniert? Wie der Buchrücken seine runde Form erhält? Wie der Deckel mit dem gehefteten Buchblock idealiter verbunden wird? Wie viele Arbeitsgänge noch notwendig sind, bevor das Leder übergezogen werden kann und weshalb die Deckel dabei unbedingt doppelt unterfüttert sein müssen? Wie die Messer zum „Schärfen“ von Pappe und Leder beschaffen sein müssen, wie die Bündezange aussieht oder der Glättzahn und wofür man ihn verwendet? Und weshalb Bauchfelleder sich generell weniger eignet und mit Vitriol- oder Schwefelsäurebeigaben gegerbtes Leder für einen Bucheinband überhaupt unbrauchbar ist? Besonders spannend ist auch die Beschreibung, wie die Verzierungen auf den Einband kommen, vor allem natürlich die Arbeit des Vergoldens von Buchschnitt und Blindprägungen. Die detaillierte Auflistung der notwendigen oder hilfreichen Zurichtungen und Beigaben nehmen sich für den Leser von heute fast wie alchimistische Geheimregeln aus. Und daß man den „Teiggummi“, mit dem das überschüssige Blattgold aufgetupft wird, nach einiger Zeit „an den Goldschläger verkaufen [kann], der das Gold ausschmilzt“ (S. 197), ist ein schönes Bild nicht nur für die Kostbarkeit des Werkstoffes, sondern auch für das dichte Ineinander der handwerklichen Berufe, das Cockerell allerdings keinesweg reibungsfrei schildert, denn die Interessen von Buchdruckern, Gerbern, Goldschlägern, Papiermachern und Stempelschneidern sind mit denen des Buchdruckers nicht immer deckungsgleich.
Ja, es ist erstaunlich, was aus diesem kleinen Band alles zu erfahren ist über den Stand der technologischen Entwicklung zur Hochblüte der englischen Buchbindekunst der Jahrhundertwende. Erstaunlich ist auch, daß es bei aller Ferne zu unserer Alltagsrealität auch für den Laien verständlich ist. Bei der Beschreibung der technischen Abläufe tragen dazu ganz wesentlich die Illustrationen von Noel Rooka bei, die die angeführten Vorgänge und Verfahrensweisen anschaulich nachvollziehbar machen. Aber Cockerell ist nicht nur Handwerker, sondern Buchkünstler. Mit Verve kämpft er gegen Verflachung, rationale Vereinfachungen und Standardisierung, die er als Aushöhlung seines (Kunst-)Handwerks sieht: also Handstempelbuchstaben statt Typen für die Rückenbeschriftung, einlinige Fileten statt serieller Koppelung mehrerer Linien in einer Prägewalze und von Hand genähte Kapitalbänder. Wunderschön ist auch sein Plädoyer für den berufsmäßigen „Voröffner“ in Bibliotheken, um unsachgemäßes erstes Öffnen neu gebundener Bücher zu verhindern, das den Buchrücken bleibende Schäden zufügen kann. Bibliothekare sind überhaupt die andere Zielgruppe, die Cockerell im Auge hat. Zwar ist der Abschnitt, der sich mit dem zweiten Teil des Buchtitels, der „Pflege des Buches“ beschäftigt, sehr kurz (knapp 20 Seiten), aber Hinweise für Bibliothekare, vor allem über den Umgang mit alten Büchern, durchziehen den gesamten Band. Angefügt ist ein kleines Glossar zum Spezialvokabular des Handwerks, das nützlich ist, wenn es auch nicht alle Rätsel um verwendete Begriffe lüftet (was ein „Fitzbund“ ist, klärt zum Beispiel nur der Text; S. 90).
Cockerells Standardwerk aus der großen Zeit der englischen Buchkunst macht dem Leser die Lektüre leicht und vermittelt als bleibenden Eindruck eine Vorstellung vom Buch als (handwerklichem) Gesamtkunstwerk. Bleiben wird von der Lektüre auch ein geschärftes Auge für die produktionsästhetischen Details des Buches. Daß der Reprint selbst natürlich ein industriell gefertigtes Kapitalband verwendet und der nüchterne Pappprägeband das ursprüngliche Titelbild (nicht besonders gut reproduziert) ins Innere des Buches verbannt, ist zwar schade, aber aus Kostengründen mehr als verständlich. Immerhin sind die gehefteten Lagen und die Zahl der Bünde (bei der nicht ganz im Sinne Cockerells ausgeführten Verbindung Deckel / Vorsatz / Buchblock) schön sichtbar und bescheren damit auch die Freude, das angelesene Wissen gleich ein wenig in der Praxis zu erproben.