#Sachbuch

Der Dichter am Apparat

Christoph Hoffmann

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Christoph Hoffmanns Musilstudie – als Dissertation an der Universität Freiburg enstanden – ist keine leichte Lektüre. Was sich beim Lesen an Informationen über Wissenschaftsgeschichte wie über das Werk Robert Musils enthüllt, lohnt aber dennoch die Mühe.

Es geht dem Autor um nicht weniger als eine „Archäologie des Wissens“, das in Musils Texte und ihre Poetik eingegangen ist, wobei unter „Wissen“ hier primär „Techniken der Aufzeichnung und Übertragung optischer und akustischer Reize“ (S. 8) verstanden werden.

Biografischer Ausgangspunkt sind Musils Studienjahre in Berlin, wo er auch am Psychologischen Institut tätig war. Inspiriert von der jungen Technologie des Kinematografen wird hier Experimentalpsychologie betrieben. In langen Versuchsreihen werden Sinneswahrnehmungen unter apparativ simulierten Extrembedingungen (Schnellseher, Farbvariatoren – darunter ein von Musil konstruierter) untersucht, um neue Erkenntnisse über das Zustandekommen von Sinneseindrücken zu gewinnen.

Was sich aus den Wahrnehmungsprotokollen der Versuchspersonen ergab, waren oft weniger neue Erkenntnisse, denn die Dokumentation mannigfacher Verwirrungen. Die Spuren dieser allgemeinen Verunsicherung der Wahrnehmungsdaten arbeitet Hoffmann in Kapitel II am „Probandenschicksal“ des jungen Törleß heraus. Als „eine der ersten literarischen Figuren überhaupt, deren Sinne von dem neuen Medium ergriffen werden“ (S. 83), ist Törleß eine frühe fiktionale Verdichtung der allgemeinen Verunsicherung, die das junge Medium Film auf die Intellektuellen der Zeit ausübte.

Das Flimmern von Kinematografen, Tachistoskopen und Farbvariatoren wird zum ständigen Hinweis auf die Relativität unserer Sinneseindrücke. Mit der Sicherheit der Wahrnehmung zerfällt auch die Sicherheit des wahrnehmenden Subjekts. Als Fallgeschichten des Ich-Verlustes und der Depersonalisation, wie sie um die Jahrhundertwende en vogue waren, liest Hoffmann im folgenden Kapitel Musils Erzählungen „Die Vollendung der Liebe“ und „Die Versuchung der stillen Veronika“, die 1911 unter dem Titel Vereinigungen erschienen. Die zeichenhafte Anordnung der Sätze, die sich in ausufernden wie-Vergleichen und Wortkonstruktionen des Uneigentlichen / Ungenauen (beinahe, fast, kaum….) ausdrückt, bewirkt eine Art sprachliches Flimmern, das auf kausale Erklärungen verzichtet und wie ein Bild gelesen sein will.

Unter der Überschrift „Experimentalräume“ (Kapitel III) wird der Einfluß des Ersten Weltkrieges auf Literatur, psychologische Forschung und technische Innovation am Beispiel des „Hörerlebnisses Krieg“ und Musils Erzählung Die Amsel untersucht. Der zweite Teil dieses Abschnitts versucht eine Fundierung des „obskuren Zentrum(s) von Musils Werk“ (S.174) – des „anderen Zustands“ – in den Fragestellungen und Forschungsansätzen der Gestaltpsychologie. So wie im Vexierbild oder auch im Stummfilm sieht Hoffmann in den Ausführungen über den „anderen Zustand“ aus Musils Mann ohne Eigenschaften ein Weiterschreiben „am Modell anderen Erlebens“ (S. 175).

Der letzte große Abschnitt widmet sich unter dem Titel „Textapparate“ Musils Nahverhältnis zur Technik des Radios und seiner nicht unproblematischen Übernahme zeitgenössischer Psychotechnik-Ansätze wie sie aus den kriegsbedingt notwendigen „human-engineering“-Maßnahmen hervorgingen.

Schlüssig entwickelt Hoffmann die geistige Verwurzelung Ulrichs im Ideen- und Sprachgut des Krieges. „Die wahre und neueste militärische Sicht der Dinge“ in Bezug auf Menschenführung und rationale Durchorganisierung der Gesellschaft ist dem „ehemaligen Kavalleriefähnrich Ulrich und dem ehemaligen Landsturm-Oberleutnant und Fachbeirat für Methoden der Geistes- und Arbeitsausbildung Robert Musil zu eigen“ (S. 283). Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird dieser geistige Fluchtpunkt des Romans – Psychotechnik, Organisation und Logistik – von der Realität eingeholt und desavouiert und wohl auch deshalb für Musil nicht mehr weiterschreibbar.

Die Musils Werk betreffenden Indizien, die Hoffmann für seine Thesen heranzieht, sind in der Musilforschung großteils bekannt und vielfach analysiert. Ihre Anordnung im neuen Kontext ergibt aber überraschend neue Perspektiven. Das rechtfertigt nicht nur die oft sehr ausführlichen wissenschaftsgeschichtlichen Exkurse vor allem zur Experimentalpsychologie, sondern löst so auch den Anspruch einer interdisziplinären Diskursanalyse ein.

Christoph Hoffmann Der Dichter am Apparat. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899 – 1942.
München: Fink, 1997.
(Musil-Studien. 26).
308 Seiten, broschiert, mit Abbildungen.
ISBN 3-7705-3180-9.

Rezension vom 02.09.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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