#Roman
#Debüt

Der gelbe Onkel

Andrea Grill

// Rezension von Veronika Nowak

‚Freunde sind die Familie, die man sich aussucht.‘ An diesem geflügelten Wort ist viel Wahres dran, doch verschwimmen heutzutage die Grenzen zwischen Familie und Freunden zusehends.

Die Familie als Kernzelle der Gesellschaft, die Vater-Mutter-Kind-Konstellation, die meine Kinderspiele bestimmt hat, existiert zwar noch, ist aber nicht mehr die Norm.Abgesehen davon, daß man Leute zu seiner Familie macht, mit denen man nicht blutsverwandt ist, blickt man zunehmend selektiv auf die eigentlichen Familienmitglieder. Zeigt man Photos von Familienfesten her, wird mal der eine, mal der andere Verwandte näher beschrieben, gute oder schlechte Eigenschaften werden je nach Tagesverfassung hervorgehoben oder verschwiegen, und selten bedenkt man, daß man seinen Onkel vielleicht weniger gut kennt als einen Arbeitskollegen. Es stellt sich die Frage, ob man nicht bei jedem Durchblättern des Familienalbums eine neue, oder zumindest andere Familie betrachtet und beschreibt. Nachzuvollziehen ist das nicht, denn wer führt schon darüber Buch?

Andrea Grill hat mit ihrem Debütroman einen solchen Streifzug durch ein Familienalbum aufgeschrieben. Das Stichwort „Familie“ läßt an große Chroniken wie Thomas Manns „Buddenbrooks“ denken, aber allein der Umfang von „Der gelbe Onkel“ macht Hoffnungen bzw. Befürchtungen diesbezüglich zunichte. Auf rund 130 Seiten erzählt die Autorin von – nein, nicht Familie im traditionellen Sinn, sondern von einem Konglomerat von Personen, über deren Beziehungen untereinander der Leser relativ bald den Überblick verliert. Ob Andrea Grills Familie sowie deren Erweiterung zu Nachbar, Kollege und Friseur aus dem Leben gegriffen ist oder nicht, tut eigentlich nichts zur Sache. Jeder Leser wird sich irgendwo wiedererkennen.
Einen roten Faden im Sinne einer kohärenten Handlung bietet der Roman nicht. Die lose angeordneten Kapitel werden einzig von einem weiblichen Ich, das von seiner Familie erzählt, zusammengehalten. Zur Charakterisierung des Buches sollen hier einige der Figuren, die die Seiten dieses Familienalbums bevölkern, herausgegriffen werden.

Da wären zum ersten die beiden Großmütter, die den Anfang sowie das Ende des Romans bilden. Die eine ist „Großmutter, das Schalentier“: sie wird mit zunehmenden Alter immer jünger, verläßt ihre Küche lediglich, um schlafen zu gehen und erkennt ihre Enkelin nur mehr in seltenen Momenten. Im starken Gegensatz dazu die Großmutter ganz am Schluß, die bis ins hohe Alter noch mit dem Moped fährt – einerseits ohne Helm, um ihre Frisur nicht zu zerdrücken, andererseits mit gebrochenem Bein, damit der Großvater zu Hause nicht ohne Essen bleibt. Zwischen diesen beiden Frauen entwickelt die Autorin ein breites Panorama von Verwandten, die über ganz Europa verstreut leben. Da gibt es die nahen Verwandten, etwa den Cousin, der aus der kindlichen Sicht der Erzählerin größer ist als alle anderen Leute und mit seiner kleinen runden Brille „sehr gescheit“ aussieht. Er wird später evangelischer Pfarrer und sie treffen einander einmal zufällig in Kroatien, ansonsten bald nur mehr bei Begräbnissen, bis es auch damit vorbei ist. Eltern kommen keine vor, aber dafür „Der Bruder“, von dem berichtet wird: „Er wünschte, dass Kinder einfach auf Bäumen wüchsen, sagte er. Das wäre das Beste für die Kinder und auch für die Eltern. Dann hätte niemand Mühe damit, und wenn sie erwachsen wären, würden sie einfach zu Boden fallen wie reife Birnen und von dort aus fortgehen, ihren eigenen Weg entlang.“ – Eine Betrachtung, die schon zu Beginn des Buches in einer Art Einleitung angestellt wird; diese Einleitung – und somit ihre Verfasserin – kommt aber zu dem Schluß, daß eine Familie doch etwas Gutes ist.

Während von anderen Verwandten auch oder gar hauptsächlich äußere Umstände berichtet werden, wird beim Bruder viel von seinem Innenleben, zum Beispiel seine Antriebslosigkeit, beschrieben. Die Treffen in Kaffeehäusern und der Dialog zwischen den Geschwistern stehen im Mittelpunkt. Es scheint, daß sich bei Brüdern und Schwestern die Äußerlichkeiten von selbst erklären, man ist sie so gewohnt, daß sich eine Beschreibung erübrigt. Anders verhält es sich da mit „Tante Lulja in Europa“. Diese Tante lebt in Tirana, sie gehört dem muslimischen Glauben an und regt sich fürchterlich auf, wenn im Radio behauptet wird, der Westen ginge mit dem Thema Gott fortschrittlicher um als die Moslems. Von ihr erfahren wir, daß sie ein Jesus-Porträt im Wohnzimmer hängen hat und in ihrem Fenster eine kleine Moschee steht, die leuchtet. Ihr Lieblingsgetränk ist Calvados, obwohl sie noch nie einen getrunken hat, und auch nur in Paris einen probieren würde.

Räumlich näher, doch nicht mit der Erzählerin verwandt ist „Der Kollege“, der eine Schweizer Mutter und einen spanischen Vater hat und daher von niemandem richtig eingeordnet werden kann. Meistens denken die Leute, er käme aus Marokko. Der Kollege hat ein Gesicht, das ein bißchen verschoben wirkt, was ihm neben seiner Fähigkeit, Fragen zu stellen und sofort eine Antwort zu bekommen, eine ihm eigene Andersartigkeit verleiht. Er ist Wissenschafter und erstellt Stammbäume von Pflanzen. Außerdem meidet er die Einsamkeit, nachdem er auf einer Reise durch Grönland zu viel Einsamkeit erlebt hat. Das erzählende Ich weiß sogar zu berichten, daß er manchmal zu Musikvideos tanzt.

15 Personen sind in dem Familienalbum versammelt; vier davon gehören, technisch gesehen, nicht zur Familie, sind aber oft mit persönlicheren Details ausgestattet als der eine oder andere Onkel, der hauptsächlich durch Anekdoten charakterisiert ist. Aber wie Andrea Grill schon in der Einleitung schreibt: „Die Familie ist tot, höre ich mich sagen. Die Familie hat ihre Zeit gehabt. Sie ist aus der Mode gekommen, überflüssig geworden. Oh nein, höre ich mich sagen, die Familie lebt und hat sich verändert. Sie ist erwachsen geworden und hat den Nachbarn adoptiert, den Friseur, den Arbeitskollegen. All jene, die da sind, ohne dass wir sie darum gebeten haben, sie, die wir uns nicht ausgesucht haben, sie, die und alles so schwer machen und doch den unentbehrlichen Rahmen bilden, ohne den unser Antlitz kein Profil ergäbe, nur einen Schatten.“

Meine Leseerfahrung? Schwankend zwischen regem Interesse für diese und jene Figur und leichter Ungeduld ob des gelegentlich kindlichen Stils – allerdings nur bis zu der Einsicht, daß kindliche Erinnerungen nun einmal in kindlichen Worten erzählt gehören.
Die Langzeitwirkung? Ich überlege mir, wie so ein „Familienalbum“ wohl aussähe, wäre ich die Erzählerin; und ich komme prompt auf ein paar zu adoptierende Personen, meine Bankbetreuerin zu Beispiel. Sich durch dieses Buch zu familiären Gedankengängen anregen zu lassen lohnt jedenfalls den Versuch.

Andrea Grill Der gelbe Onkel
Ein Familienalbum.
Wien: Otto Müller, 2005.
132 S.; geb.
ISBN 3-7013-1105-6.

Rezension vom 18.04.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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