Das Bestsellerbeispiel im Titel ist genau das, nämlich ein Beispiel, um Literatur geht es in dem Buch nicht. Es ist aber nicht nur für interessierte Laien (für die es geschrieben ist) hilfreich, sondern auch für LiteraturwissenschaftlerInnen, die sich quantitativer Methoden bedienen. Darüber hinaus ist gerade für GeisteswissenschaftlerInnen die Frage nach der Bedeutung der Zahlen im Vergleich mit Wörtern relevant: „Wir scheinen massenhaft von Zahlen hypnotisiert zu sein. Während wir kein Problem damit haben, Wörter kritisch zu hinterfragen, erstarren wir bei Zahlen in Ehrfurcht.“ (S. 15). Blauw will die LeserInnen zu mündigen KonsumentInnen von Zahlen, Statistiken und Daten erziehen. „Zahlen sind so mächtig geworden, dass wir nicht länger die Augen davor verschließen dürfen, wie sehr sie uns in die Irre führen können. Wir müssen uns unbedingt ent-ziffern.“ (ebd.).
Dazu verfolgt Blauw die Strategie, zunächst die historische Entwicklung der Bedeutung von Zahlen und Statistiken nachzuzeichnen. Wer weiß schon, dass die für ihre märtyrerhafte Aufopferungsbereitschaft bekannte Florence Nightingale Zahlen erhoben und als eine der ersten Personen weltweit überhaupt Grafiken anfertigte und so der englischen Regierung die Missstände in Militärkrankenhäusern vor Augen führte, die daraufhin aktiv und gezielt eingriff, was die Sterblichkeitsrate in diesen Einrichtungen massiv reduzierte. Zahlen, professionell erhoben, richtig eingesetzt und grafisch in Szene gesetzt, können also Menschenleben retten. Sie können aber auch genau das Gegenteil tun, nämlich dann, wenn die Raucherlobby der großen Tabakkonzerne alles daran setzt, den Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Rauchen zu verschleiern und Zahlen gezielt manipuliert, wie Blauw in Kapitel 4 nachzeichnet. Am Beispiel einer Studie, die scheinbar nachweist, dass Schwarze einen niedrigeren IQ als Weiße hätten, zeigt Blauw die Voreingenommenheit der WissenschaftlerInnen auf, und dass erstens nicht zwischen jeder Korrelation ein kausaler Zusammenhang besteht, und zweitens, Kausalitäten immer ein interpretativer Akt sind. So wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass Schwarze seltener in Eliteuniversitäten aufgenommen wurden, weil sie einen niedrigeren IQ hätten, während Schwarze in Wirklichkeit bei den Tests schlechter abschnitten, weil ihnen der Zugang zu Bildung erschwert oder sogar verweigert wurde.
Am Beispiel von scheinbar objektiven Diagrammen, die noch dazu mit tatsächlich richtigen Zahlen arbeiten, weist Blauw nach, wie man dennoch einen falschen Eindruck erwecken und damit seine eigene politische Agenda befördern kann. So kursiert eine Grafik über die durchschnittliche Jahrestemperatur zwischen 1880 bis 2015. Sie zeigt einen waagrechten Strich, sprich, es hat sich so gut wie nichts verändert. Der Klimawandel, so die Schlussfolgerung, ist reine Panikmache. Wenn man sich aber die vertikale Achse anschaut, erkennt man, wie dieser Eindruck zustande kommt, hier sind nämlich die Temperaturen von -10 bis 110 Fahrenheit angegeben. Für den Klimawandel entscheidend sind Temperaturzunahmen der durchschnittlichen Jahrestemperatur zwischen 1 bis 2%. Die Größe der vertikalen Achse lässt diese entscheidenden Änderungen unsichtbar werden. „Wenn ich nach dem gleichen Prinzip eine Grafik meines Alters erstelle, dann beweist diese, dass ich in den letzten 31 Jahren keinen Tag älter geworden bin.“ Den Beweis tritt Blauws dann auch an: Die vertikale Achse wird mit 0 bis 5000 Jahren festgelegt (also absolut ungeeignet, um ein Menschenleben zu messen) und schon sind 30 Jahre kaum noch zu erkennen.
Ein paar reißerische Kapitelüberschriften wie „Wie Hitler das Leben von Millionen hätte retten können“ hätte man sich sparen können – da sind der Autorin wohl selber die Relationen durchgegangen. Ihre Argumentation: 1939 veröffentlichte der Deutsche Fritz Lickint die Studie Tabak und Organismus. Hitler selber war überzeugter Nichtraucher, unter deutschen Medizinern hatte sich ein Bewusstsein für die Schädlichkeit des Rauchens durchgesetzt. Da aber deutsche Forschungsergebnisse „nach dem Krieg einen üblen Beigeschmack“ hatten, wurde die Deutschen Studien ignoriert. Blauws Schlussfolgerung: „Die Ironie: Einer der größten Massenmörder der Geschichte hätte mit seiner Anti-Raucher-Kampagne das Leben von Millionen Rauchern retten können.“ Sofern man das Buch an dieser Stelle nicht angewidert zuklappt und sich antifaschistisch inspiriert Zigaretten kaufen geht, erfährt man noch „Was man tun sollte, wenn man auf eine Zahl trifft“, eine durchaus hilfreiche Checkliste.
Der größte Bestseller aller Zeiten liest sich flott, ist anekdotenreich und schafft tatsächlich ein Bewusstsein. Dass es die Schwächen aufweist, die viele populärwissenschaftliche Texte haben, fällt ob der Thematik dennoch besonders ins Gewicht. Denn wo Blauw Präzision einklagt und Übertreibungen, Verfälschungen und Achtlosigkeit kritisiert, spitzt sie selber an manchen Stellen zu und wählt den Weg, der mehr Aufmerksamkeit garantiert. Das ist ein kleines Manko, einen Platz auf der Bestsellerliste hat sich Blauws mit ihrem wichtigen Anliegen trotzdem verdient.