Dies sind die drei Hauptfiguren, um die Kurt Palm die Handlung eines Thrillers konzentriert. Sie alle kennen einander nicht, ihre jeweilige Situation wird zunächst getrennt voneinander in einzelnen Kapiteln vorgestellt, und doch ist von Anfang an klar, dass sich ihre Schicksale auf fatale Weise kreuzen werden.
Dazu tragen vor allem bei: der psychisch labile Vater von Sophia, der fünfjährigen Tochter der Lehrerin, eine aus verschiedenen miteinander verfeindeten Gruppen von migrantischen Pubertierenden bestehende Schülerschar und eine werdende Mutter, die Frau des Polizisten, die hinter die Affäre ihres Mannes zu kommen droht. Der perfekte Sturm scheint sich hier zusammenzubrauen, und als auf dem Schulhof ein Dokumentarfilm über das Alltagsleben der Jugendlichen gedreht werden soll, kommt es zu einem nicht ganz unvorhersehbaren Showdown.
Kurt Palm knüpft mit seinem aktuellen Band Der Hai im System nur auf den ersten Blick an seinen Krimi-Erfolg „Bad Fucking“ von 2010 an, für den er im Folgejahr den begehrten Friedrich-Glauser-Preis erhielt. Denn die Machart des neuen Buches ist gänzlich anders. Verschoss der Autor in seinen Geschichten bisher meist viel Skurriles mit überraschenden Wendungen, so fällt im Roman „Der Hai im System“ im Gegenteil eine besondere Geradlinigkeit der Handlung ins Auge, die auch trotz der vielen einfühlsam gestalteten Dialoge und inneren Monologe nie die Oberhand verliert. Und irgendwie „lustig“ ist hier überhaupt nichts, im Gegenteil: „Der Hai im System“ ist beinharter Horror, wodurch Kurt Palm vorführt, dass die vielzitierte Toxizität nicht unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal von Männlichkeit ist; auch die Frauenfiguren des Romans tragen ihren gebührenden Anteil zur fortwährenden Zuspitzung des Geschehens bei. Der finale Gewaltausbruch erscheint als systemimmanent – freilich wird er in letzter Konsequenz dann eben doch durch die ausrastenden männlichen Figuren in Szene gesetzt.
Der Hai, diese schwimmende und fressende Metapher gnadenloser Gier, ist für Palm die perfekte Verkörperung dieses Systems, welches er rastlos auf der Suche nach Beute durchzieht. Das Netz unserer dysfunktionalen sozialen Beziehungen, so suggeriert der Autor, ist unabänderlich, alternativlos; wir alle mit unseren Trieben, unseren verdrängten Idealen, unseren Ängsten und Phobien, unserer Schuld und Wehrlosigkeit sind ihm ausgeliefert. Und auch ganz realiter kommen die Raubfische im Buch vor: das erste drastisch dargestellte Opfer dieser Verstrickungen ist der verzweifelte Vater von Sophia, der, als er das Sorgerecht für seine kleine Tochter verliert, vor deren Augen in das Haibecken des städtischen Aquariums springt und sich von den hungrigen Bestien zerreißen lässt.
Eine weitere, etwas subtilere Metaphorisierung gelingt Palm mit dem Kunstgriff, an allen möglichen Stellen im Roman Hornissenschwärme auftauchen zu lassen, deren Ursprung vom Figurenpersonal aber nur halbherzig untersucht wird. Sie verweisen auf die versteckte, unterdrückte Wut in der Gesellschaft, die in ihrer Gesamtgefahr nicht wirklich wahrgenommen wird.
Dieses Buch hätte eine Anklage sein können, ein letzter Weckruf vielleicht vor den Gefahren einer durch und durch kapitalisierten und ökonomisierten Gesellschaft, die in einer gemeinsamen Kraftanstrengung noch einmal in Frage zu stellen gewesen wäre. Durch die Fokussierung auf das Prinzip des reinen show, don’t tell ist dem Autor ein gnaden- und atemloser Thriller gelungen, doch seine implizite Gesellschaftskritik läuft ins Leere, gerade weil er keine möglichen Auswege zeigt. Jeder geschilderte Charakter ist unweigerlich auf sein endgültiges Scheitern hin angelegt. Doch funktioniert das Prinzip Leben tatsächlich auf diese Weise? Palm arbeitet konsequent auf einen Crash stereotyper Figuren hin, die in dieser Eindimensionalität in der Realität eben dann doch nicht existieren.
Und dennoch: handwerklich perfekt, in den psychologischen Verknüpfungen plausibel, im plotting ungeschlagen erfahren – trotz der von Anfang an spürbaren Aussicht auf ein schreckliches, blutiges Finale gelingt Palm ein Spannungsaufbau, der einen unwiderstehlichen Lesesog auszulösen vermag. Das schale Gefühl, welches einen indes nach Abschluss der Lektüre ereilt, speist sich nicht zuletzt aus der eigenen unterschwelligen Akklamation zu einem gesamtgesellschaftlichen Zynismus enormen Ausmaßes, welchen der Autor in Der Hai im System an den Tag legt.