#Sachbuch

Der lange Schatten des "Roten Oktober"

Primus-Heinz Kucher, Rebecca Unterberger (Hg.)

// Rezension von Alfred Pfoser

Aus einem Guss sind normalerweise Sammelbände nie. Sie gleichen eher Schachteln, in denen sehr verschiedene Aufsätze Platz finden. Der lange Schatten des ‚Roten Oktober‘ besticht dadurch, dass der Band sehr fokussiert ist, dass die 22 Autorinnen und Autoren, die angetreten sind, mit ihren Beiträgen den vielfältigen Kulturtransfer zwischen der 1917 entstandenen Sowjetunion und dem Österreich der Ersten Republik zu beleuchten, gut einander ergänzen. Es entsteht ein breites Spektrum, Totalität wird freilich nicht beansprucht. In Summe gesehen, waren die Austauschbeziehungen, wie auch die Herausgeber Primus-Heinz Kucher/ Rebecca Unterberger in ihrem Vorwort konstatieren, beträchtlich, übte das sozialistische Experiment in Russland eine erhebliche Faszination auf die Kulturszene in Österreich aus. Der Sammelband beschränkt sich nicht auf die Literatur, sondern bezieht auch die Bereiche Film, Theater, Musik, Oper, Literatur, Architektur ein, so dass ein weites Feld von Rezeption und Einfluss, von Diskussion, von Bewunderung und Ablehnung bestellt wird.

Wie heftig die politische Debatte um die russische Revolution und ihre Erfolgen tobte, das zeigen am besten die vielen Russland-Berichte sowie die literarischen Verarbeitungen der großen Transformation, die alle mit dem Anspruch auftraten, ein authentisches Lagebild zu geben. Die Gründe sind nachvollziehbar, wieso den Berichten und belletristischen Thematisierungen im Sammelband ein sehr breiter Raum gegeben wird. Das unbekannte große Land, das so verschiedene Beobachtungen und Urteile auslöste, war faszinierend, irritierend, Furcht erregend, fungierte in jedem Fall als Reibebaum. Alexander W. Belobratow über Robert Müller und Heimito von Doderer, Primus-Heinz Kucher über Ernst Weiß, Robert Musil, Leo Lania, Arthur Rundt, Jürgen Egyptien über Ernst Fischer, Rebecca Unterberger den über Amerika-Russland-Diskurs, Walter Fähnders über Lilli Körber, Ievgeniia Voloshchuk über Joseph Roth, Katja Plachov über René Fülöp-Miller bezeugen in ihren Einzelstudien die betörende, verstörende, zwiespältige Attraktion. Einzig Alja Rachmonowa, bekannt durch ihre „Milchfrau in Ottakring“, war eindeutig in ihrer negativen Haltung. 1925 wurde sie, die mit einem österreichischen Kriegsgefangenen, dem Salzburger Englischlektor Arnulf Hoyer, verheiratet war, aus der Sowjetunion ausgewiesen. Mit ihrer Russland-Trilogie wurde Rachmanowa in den konservativ-katholischen Kreisen zur Gewährsfrau für eine Sicht, in der die Sowjetunion als Hort des Bösen fungierte. Der Beitrag von Natalia Blum-Barth zeichnet Rachmanowas Kritik an der Sowjetunion nach: In einer einfachen, emotional aufgeladenen Sprache wird das neue Russland dämonisiert. Die anfangs offene Haltung der Protagonistin verkehrt sich in heftigste Ablehnung, weil sie nur mehr sinnlose Zerstörungswut, wirtschaftlichen Niedergang, grenzenlose Anarchie, maßlose Gewalt und rabiaten Atheismus erkennen kann.

Der „Panzerkreuzer Potemkin“ war ein Meilenstein in der Filmgeschichte, fand in der ganzen Welt wegen seiner cinematographischen Kraft Bewunderer und wegen der Schnitttechnik Nachahmer. Auch in Wien faszinierten die Vorführungen ein Massenpublikum, die vom revolutionären Geist geradezu elektrisiert waren. Der Propagandawert für die neue Sowjetunion war enorm, „Panzerkreuzer Potemkin“ lenkte das Interesse des großen Publikums auf die neue sowjetrussische Kunst, speziell den sowjetrussischen Film. Michael Omasta/ Brigitte Mayr weisen in ihrem Beitrag auf die Tatsache hin, dass für den Erfolg des Films der Wiener Komponist Edmund Meisel mit seiner experimentelle Klangsprache einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Meisel verwandelte den stummen „Panzerkreuzer“(1925) in eine spektakulär tönende Variante (1930).

Im Vergleich zum Film erreichten Theateraufführungen nur ein begrenztes Publikum. Der sowjetrussische Kulturexport im Theater war beträchtlich. Die Gastspiele von Alexandr Tairovs Kammerspielen, des „Blauen Vogels“ oder der jüdischen Theatertruppen fanden viel Beachtung; die Zeitungen berichteten ausführlich darüber. Wie der Beitrag von Barbara Lesák zeigt, bekam die neue Theaterästhetik bei Zuschauer wie Kritikern breite Resonanz. Joseph Gregor, der Begründer der Theatersammlung in der Nationalbibliothek, popularisierte mit dem Buch „Das russische Theater“, das er zusammen mit René Fülöp-Miller verfasste, die Kenntnisse über die neue Theaterkultur in Russland (siehe den Beitrag von Kurt Ifkovits). Platon M. Kerschenzews Abhandlung über „Das schöpferische Theater“ beeinflusste das linke „Politische Kabarett“ und die sozialdemokratischen Masseninszenierungen im Praterstadion (siehe den Beitrag von Jürgen Doll).

Der österreichischen Kunst in der Zwischenkriegszeit wird Traditionalismus attestiert, die Forschung sieht sie oft weit entfernt von den pulsierenden Zentren der Avantgarde (Paris, Rom, Moskau) an. Evelyne Polt-Heinzl will diese Kategorisierungen aufbrechen, indem sie sich ausführlich Otto Rudolf Schatz widmet, der die aktuellen Strömungen zu einem eigenen Stil formte, der vom Expressionismus das Pathetische übernahm, von der Neuen Sachlichkeit die Konzentration auf den Alltag, vom russischen Futurismus das Faible für die Geometrie der Industrieanlagen, der mit seinen Stadt-, Fabrik-, Arbeitslosenbildern die politische Entwicklung kommentierte und enge Verbindungen zum Roten Wien aufwies. Unpolitisch, wie manche Kulturgeschichten die Kunst der 20er Jahre klassifizieren, ist sein imposantes Werk wahrlich nicht.

Freilich stimmt auch bei Otto Rudolf Schatz, was Vera Faber generell von der Architektur nachweist: Die österreichischen Künstler sind in der neuen Sowjetunion nicht im Zentrum des Interesse, in Moskau setzt man auf den Austausch mit dem Bauhaus, dem tschechischen und niederländischen Konstruktivismus, dem französischen L’Esprit Nouveau. Die russische Avantgarde sah bei der Rezeption amerikanischer Vorbilder davon ab, dass Richard Neutra österreichischer Herkunft war. Die Otto-Wagner-Schule oder Adolf Loos wurden in Moskau nicht beachtet, allerdings studierte man in Moskau mit Interesse die technische und organisatorische Großleistung des Wiener Gemeindebauprogramms.

Olesya Bobrik verweist in ihrem Beitrag über die „Universal-Edition“ darauf, wie bedeutend Wien als Drehscheibe bei der Verbreitung russischer Musik war. Ein einzelnes Werk bezeugt sehr direkt den Einfluss der sowjetrussischen Kunst, sowohl in musikalischer wie thematischer Sicht. Max Brand kam im Alter von elf Jahren mit seinen Eltern aus der Ukraine nach Wien. Seine Oper „Maschinist Hopkins“ (1928/29), die auch heute noch gespielt wird, ergeht sich in einem Hymnus auf die Leben spendende Macht der Maschinen und hatte eine nicht zu übersehende Verwandtschaft mit den Kompositionen Aleksandr Masolovs.

Ein eigener Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit der kommunistischen Presse in Österreich, den Autorinnen und Autoren, die in ihr geschrieben haben, den Themen, denen sie sich gewidmet haben. Veronika Hofeneder lenkt die Aufmerksamkeit auf die in vielerlei Hinsicht interessante Zeitschrift „Sowjet“ und entdeckt dort auch Gina Kaus, der sie 2013 eine eigene Monographie gewidmet hat. Stefan Simonek und Martin Erian gehen den Feuilletons, Fortsetzungsromanen und ihren vornehmlich propagandistischen Botschaften in der „Roten Fahne“ nach. Die KPÖ arbeitete sich am skeptischen Russland-Bild der Sozialdemokratie ab: In der Weltwirtschaftskrise wurde in einem kommunistischen Hamburger Verlag eine Broschüre „Wien – Moskau. Zwei Städte – zwei Welten“ publiziert, was eine Replik der Wiener Sozialisten auslöste. – Wie der Sammelband nachweisen kann, fand der vergleichende Wettkampf zwischen Roten Wien und Moskau nicht nur in der großen Arena der Politik statt.

Primus-Heinz Kucher, Rebecca Unterberger (Hg.) Der lange Schatten des „Roten Oktober“
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918 – 1938.
Berlin: Lang, 2019.
457 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 978-3-631-76641-5.

Rezension vom 03.09.2019

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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