Wer sich von den Theaterwissenschaftlerinnen Hilde Haider-Pregler und Birgit Peter eine trockene Analyse erwartet, wird überrascht sein. Den Autorinnen ging es nicht darum, wie oft der Schriftsteller das Wort „Knödel“ in seinen späten Werken verwendet hat und wie dies zu interpretieren sei. Der Mittagesser präsentiert im ersten Teil eine hellsichtige Untersuchung der kulinarischen Welt Bernhards. Biografische Spuren werden angedeutet, keineswegs jedoch überstrapaziert. Vor allem in den Stücken findet man häufig zentrale Stellen, in denen gegessen wird. Das Abendessen – Kalbsmedaillons – zu Ehren Himmlers in Vor dem Ruhestand kann hier ebenso genannt werden wie die berühmte Brandteigkrapfenszene in Ritter, Dene, Voss (dort spuckt Gert Voss alias Ludwig zum Entsetzen seiner älteren Schwester die von ihm sonst so geliebte Nachspeise voller Ekel wieder aus): Momente, in denen Familienverhältnisse und andere existenzentscheidende Konstellationen aufbrechen, sich Abgründe auftun, der Eßtisch zum „Ort der Katastrophe“ (S. 90ff.) wird.
Vereinfacht gesagt ruft Essen in Bernhards Werken zwei – völlig konträre – Reaktionsweisen hervor: Entzücken und Übelkeit. Entzücken dort, wo Kochen zur Kunst und Essen zum Lebensgenuss wird. Essen also als Charakteristikum feinsinniger Menschen: Es zeichnet – im wahrsten Sinn des Wortes – Geschmack aus, welche Speisen man wählt und ebenso, wie man diese konsumiert. Dass nur die wenigsten den strengen Maßstäben der Geistesmenschen entsprechen, versteht sich von selbst. Reger etwa, der Schöngeist aus den Alten Meistern, empfindet nach dem Tod seiner geliebten Frau die Anwesenheit einer Hauhälterin – einer „Schweinefleischfresserin“ – als besonders störend. Geschmacklosigkeit – d. h. die Vorliebe für eher einfache, meist fette Speisen – und rohe Tischsitten sind bei Bernhard Kennzeichen für Unkultur, Spießertum, Raffgier und Primitivität. „Vier Tage Kartoffelsuppe / dann vergeht dir / das Lachen“, meint Bernhards Zirkusdirektor Caribaldi (Die Macht der Gewohnheit, 1974); noch in der Auslöschung (1986) kann die verhasste Mutter folgerichtig einzig und allein diese doch eher bescheidene Speise gut kochen. Nur einer steht noch unter diesem Niveau: Der subalterne, dümmliche Vater, der Kartoffelsuppe „leidenschaftlich“ gerne isst. Weiters begegnet man vor allem in Bernhards Prosa regelmäßig diabolischen Köchinnen, die nicht nur in der Küche das Regiment führen. Doppeldeutig wird hier das Wort „Fleisch“: Wer im Speisezimmer deftig auftischt, gibt sich meist auch im Bett hemmungslos der Fleischeslust hin – die Fleischerstochter Hertha Binder aus Hans Leberts Wolfshaut lässt grüßen. Im Gegensatz dazu stehen die Gourmets oder die Asketen; beide scheinen von derart niedrigen Instinkten unberührt zu sein.
Geradezu klassisch ist der Bezug zur Bibel: Das Repertoire reicht von Äpfeln in Bernhards erster Veröffentlichung, dem Gedicht Mein Weltenstück, bis zur (in doppeltem Sinne „letzten“) „Abendmahl“-Szene in Heldenplatz. Kulinarisches Vokabular war für den Autor in besonderer Weise auch geeignet, allgemeine Sachverhalte auszudrücken: Kunstwerke können abgeschmackt oder geschmacklos sein, Zeitungen frisst man in sich hinein, Leute erbrechen ihre Gemeinheiten oder werden vom Katholizismus und Nationalsozialismus aufgefressen, man kaut an einem Thema und lässt sich einen guten Aphorismus auf der Zunge zergehen, Opernhäuser sind „gigantische melodramatische Fleischwölfe“ und Heidegger ist ein „Philosophiewiederkäuer“.
Wer das Buch über den Mittagesser schnell in sich hineinfrisst, kann mit Hilfe des zweiten Teils, eines „kulinarischen Schauspielführers“, diese Köstlichkeiten immer wieder nachlesen. Und sollte jemand beim Lesen Hunger bekommen, möge er einfach zu den Rezepten im Anhang greifen. Tafelspitz, gebratene Fasane und vieles mehr findet man dort. Einem „künstlerischen Abendessen“ steht somit nichts im Wege.