Mitunter beschleicht einen sogar das Gefühl, er habe all die Strapazen, die seinen Werdegang geprägt haben, überhaupt nur auf sich genommen, um Konzepte poetischer Weltgestaltung ersinnen, ausprobieren und reflektieren zu können. Denn das „Selbst“ ist für Messner Ergebnis eines intimen Wechselspiels „von Dabei-Sein und Weit-weg-Sein“ (S. 12); es wird aus einem „Prozeß geboren“, in dem sich Verstand, Emotionen und ihre körperliche Aufarbeitung zu einer „unumstößlichen Gewißheit“ (S. 13) verbinden, die allerdings erst recht keine objektivierbaren Kriterien erfüllt. Todesnähe und Existenzsteigerung werden konsequent parallel geführt, bis Schicksal, Biographie, „Film im Kopf“ (S. 14), Natur, Wahn, Erinnerung und Sehnsucht untrennbar verknüpft erscheinen.
So dient diesmal, bei einer neuerlichen Darstellung der Begebnisse rund um die legendäre Nanga Parbat-Expedition 1970 unter der Leitung von Karl Maria Herrligkoffer, der damals tödlich verunglückte Günther Messner als primärer Schreibimpuls. Die ausführliche, weit ausholende, in Wiederholungen immer differenzierter werdende Auseinandersetzung mit diesem Ich eines anderen bzw. dem anderen Ich des Bruders führt Reinhold Messner in ein Labyrinth historischer, wahrnehmungspsychologischer und literarischer Doppelungen und unterschiedlicher Bewußtseinsebenen: als Akteur, Beobachter, Erzähler und Nacherzähler. Zu deren Vermittlung bietet er sein ganzes Repertoire an schriftstellerischen Fertigkeiten auf, zitiert aus eigenen und fremden Aufzeichnungen, Briefen, Tagebüchern, offiziellen und persönlichen Berichten und Gesprächen, kommentiert, übersteigert und melodramatisiert geschickt die fatalen Geschehnisse vor mehr als dreißig Jahren. Gleichzeitig werden viele der evozierten Vorstellungsgebilde im nächsten Augenblick wieder in Frage gestellt, weil die eigene Identität einer permanenten Unterwanderung unterliegt. In „der kritischen Phase“ springt der Erzähler „von der ersten zur dritten Person“ (S. 14).
Bedauerlicherweise fällt mit zunehmendem Umfang des Buches die Emphase, der vor allem mit Hilfe von Rufzeichen erheischte Nachdruck, zu stark aus und die innere Spannung, mit der der Autor gestartet ist, trägt nicht bis zum Ende.
Die Urlandschaften des Hochgebirges, das Herrschaftsgebiet von Schnee, Lawinen, Eis und Kälte, verwandeln sich zu Prospekten für archetypische Tragödien, die durch Neid, verletzten Stolz und Opferwillen heraufbeschworen werden. Bestimmte Steilwände, Gesteinspfeiler, Querungen, Grate, Lagerplätze und Gipfel werden wie Protagonisten in einem übermenschlichen Schauspiel behandelt und stehen stellvertretend für verschiedene ideologische Wertesysteme. In diesem Sinne ist etwa die gefürchtete Rupalflanke des Nanga Parbat, deren Erstdurchsteigung den Hauptstoff des Buches abgibt, nicht einfach eine riesige Felswand, sondern ein Konglomerat von Mythen und Botschaften, die sich den Beteiligten, aber auch Messners Lesern mitteilen.
Berggeschichten in Film und Literatur sind privilegiert, Schöpfungs- und Todesmotive dialektisch in eins zu setzen; sie eignen sich sowohl für die Inszenierung eines regenerierten, reineren Menschentums als auch besonders pittoresker Sterbeszenen. Messner versteht es wie kein zweiter, dieses Potenzial an Totalerlebnissen zu nutzen und mit starken affektiven Grundierungen zu versehen. Aus Fakten, Vorfällen und Zufällen, Exempeln und Wundern wirkt er einen Text, der herkömmliche ästhetische Grenzen und Einteilungen verschwimmen lässt.
Die zuletzt skandalisierte Frage, ob Messner unter Umständen eine Mitschuld am Tod seines Bruders trägt, ist daher müßig; ihre Beantwortung könnte weder die verschiedenen Fraktionen, die sie dennoch begehren, miteinander versöhnen noch irgendetwas an der Eigenart des Textes verändern.