Paeschke sollte als Chefredakteur der Kulturzeitschrift Merkur in Kürze Amérys Essay Der ehrbare Antisemitismus bringen. Der wollte seinen Text nach der Rückkehr aus Israel aber noch um eine Nachschrift mit dem Titel Nach dem Augenschein ergänzen. Améry schildert darin seine Erfahrungen in einem „Land in Waffen“: „Erschreckende Klassenunterschiede“ (S. 113) und ideologische Gegensätze prägen die israelische Gesellschaft und die seit dem Sechstagekrieg israelisch besetzten Gebiete, allerdings keineswegs nur zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung – auch zwischen „furios anti-zionistischen“ jüdischen „Hochschullehrer[n]“, einem linksintellektuellen Wiener „Bauern“ im Kibbuz (S. 114), einer deutschen Konvertitin, jungen Soldaten der Armee mit Migrationsgeschichten aus arabischen Ländern und „an der Klagemauer“ den „Fanatiker[n] im Kaftan“ (S. 116).
Ganz und gar unversöhnlich sei aber doch der eine Gegensatz: „Die Araber fordern ihr Recht, die Juden das ihre: Beide stehen gegeneinander“ (S. 116). Die Bedrohung für Israel erkennt Améry als akut: „Dass die Araber Israel zerstören wollen“, und nicht nur jene unter palästinensischer Flagge, „ist so klar, dass ein Narr sein muss, wer es nicht sehen will.“ Die „Großmächte“ hätten wohl kaum ein Problem damit. „[D]ie seit Auschwitz unterschlagene ‚Judenfrage‘“ könne sich „tragisch aktualisieren“ (S. 116 f.).
Der Essay mit dieser eindringlichen Reflexion nach dem Augenschein ist nun bei Cotta neu abgedruckt worden im Band Der neue Antisemitismus. Dieser enthält insgesamt sieben essayistische Arbeiten, die Améry in den Jahren zwischen 1969 und seinem Tod 1978 für westdeutsche Zeitschriften und den Rundfunk geschrieben hat. Als Auswahl dokumentieren sie die Auseinandersetzung des prononciert linken Intellektuellen und Überlebenden von Auschwitz mit einem für ihn zutiefst erschütternden Phänomen: dem Antizionismus der Neuen Linken in Westeuropa. Sie sind Dokumente eines vehementen publizistischen Engagements gegen die „Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden“ (S. 50) der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition.
In Mein Judentum (1978), dem ersten Essay der Sammlung, gibt Améry Auskunft über die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen seiner Solidarität mit Israel und seiner Kritik an der Neuen Linken. Entstanden als Beitrag zu einer gleichnamigen Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks, war der Titel nicht selbstgewählt.
Das Nachdenken über das eigene ‚Judentum‘ wendet Améry denn auch zur Erzählung von der Geschichte seines ‚Judeseins‘. 1912 in Wien geboren, wuchs er als Hans Mayer im Salzkammergut auf. Die Reste jüdischer Familienherkunft des im Ersten Weltkrieg gefallenen Vaters und der Familie der Mutter waren im Alltag des Kindes nicht präsent, der Katholizismus der oberösterreichischen Provinz sehr wohl. Zum Juden habe ihn erst allmählich der zumal in Wien grassierende Antisemitismus werden lassen, die Nürnberger Rassengesetze und schließlich das Konzentrationslager, wo er, als Aktivist der belgischen Résistance verhaftet, „den gelben Stern“ aufgenäht bekam (S. 34).
Erst im Konzentrationslager habe er, der katholisch sozialisierte Atheist ohne alle Bindung zu jüdischer Religion und Tradition, sein „Judesein“ angenommen oder, wie er mit Bezug auf die Réflexions sur la question juive (1946) seines späteren philosophischen Lehrers Jean-Paul Sartre formuliert, auf sich genommen: „Ich zwang mir das Gefühl der Solidarität mit jedem Juden ab“ (S. 32). Aus der Fremdbestimmtheit sollte Selbstbestimmung werden. Nach der Befreiung war für ihn allerdings ausgeschlossen, dass Israel seine neue Heimat werden könne: „Ich war nirgendwo daheim. Ich war ein Jude und wollte, sollte es bleiben“ (S. 35).
In diesem grundlegenden Text des säkularen Diasporajudentums nach 1945 ist die Spannung zwischen maximaler Distanz zu jüdischer Identität und Tradition einerseits, existenzieller Bindung an alle Juden und Jüdinnen der Welt andererseits, aufgehoben. Trotz seiner scharfen Kritik „theokratische[r] Tendenzen“ (S. 36) im zeitgenössischen Israel ist für Améry klar: „Wo es aber dann jählings ans Herz der Dinge geht und ich Gefahr wittere für das verzweifelt um sich schlagende Ländchen, ist, jenseits eines Judentums, auf das ich mich nicht berufen kann, weil ich es nicht besitze, mein Judesein am Ende doch ausschlaggebend. Ich ergreife Partei. Für Israel“ (S. 37).
Auf diesen historisch spätesten, sein Engagement autobiografisch begründenden Text Amérys folgen im Band Der neue Antisemitismus in chronologischer Folge sechs Essays zum Antizionismus der Linken um 1970, den er als kaum verhohlene, wenn auch oft nicht bewusste Aktualisierung des alten Antisemitismus interpretiert, auf dessen „emotionelle Infrastruktur“ (S. 42) in West-Berlin gerade wie in Paris zurückgegriffen wird. Umgekehrt wird auch die Situation von Jüdinnen und Juden in der Diaspora in den Essays problematisiert, und das in zwei Richtungen: einmal im Hinblick auf ihr Verhältnis zur politischen Linken und Rechten, dann im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Israel. Leicht, das muss man sagen, hat Améry es sich dabei nicht gemacht. Und er hatte die Konsequenzen zu tragen.
Nach langen Jahren harter journalistischer Brotarbeit war er Mitte der 1960er Jahre schlagartig bekannt geworden mit einer Reihe von Radioessays, die im Band Jenseits von Schuld und Sühne zusammengefasst wurden. Darin konfrontierte er die westdeutsche Öffentlichkeit mit der Erfahrung von Tortur und Lager und mit einem Denken, das sich in konsequentem Bezug auf diese Erfahrung entwickelte. Nicht die Suche nach wechselseitigem Verständnis trieb dieses Denken an, sondern das Ressentiment des Überlebenden von Auschwitz, der dieses Ressentiment gegen alle Arten falscher Versöhnung behauptete. In einer Prosa von höchster Intensität verbindet Améry Klarheit und Schärfe im Denken mit der existenziellen Involviertheit des Denkenden. In Mein Judentum wird er nahe am Lebensende resümieren: „Die Leute reden über Politik und Geschichte, objektive Vorgänge. Ich bleibe fixiert, bis zum bittersten Ende, an das Erlebnis“ (S. 38).
Von den jungen Linken der 68er-Bewegung hatte er sich schon früh desillusioniert gezeigt. Im Essayband Unmeisterliche Wanderjahre (Cotta, 1971) konstatierte er, dass diese sich in ihrer Aufnahme kritischer Theorie auf „abstrakte Historizität“ und „[d]ialektische Geistesschärfe höchster Ordnung“2 verständigt hätten, sich damit aber auch von der konkreten Auseinandersetzung mit den Verbrechen der jüngeren deutschen Vergangenheit dispensiert fühlten. Ihre theoriegeladene Faschismuskritik sei auf eine Weise verallgemeinernd, dass sie die Spezifik von Nationalsozialismus und Shoah nicht mehr glaubten adressieren zu müssen. Das hörten die sozialistischen Studentinnen und Studenten nicht gern. Mit seinen Interventionen gegen den antiimperialistischen Furor ihrer Israelkritik spielte Améry sich vollends ins Abseits. Nachlesen kann man das im Vorwort zum nun erschienenen Band. Irene Heidelberger-Leonard, Biografin Amérys und Herausgeberin der neunbändigen Ausgabe seiner Werke bei Klett-Cotta (2002ff.), fasst die Reaktionen eindrücklich zusammen: „die Rechten schimpften ihn einen Kommunisten, die Linken einen Renegaten, dem Kulturbetrieb wurde er als Selbstdenker nun suspekt“ (S. 13).
Die Anlässe, Argumente und Schwerpunktsetzungen der im Band versammelten Essays sind unterschiedlich. Gemeinsame Voraussetzung ist Amérys „existenzielle Bindung“ (S. 80) an den Staat Israel. Diese begründet er in der unhintergehbaren Erfahrung als Überlebender des nationalsozialistischen Vernichtungsterrors. Darüber hinaus bringt er zwei Gründe für seine Solidarität mit Israel vor, die noch vor seinen hellsichtigen Analysen des Nahostkonflikts und der Großmachtinteressen in der Region rationale Triftigkeit beanspruchen: Erstens habe Israel als Ergebnis einer nationalen und durchaus antiimperialistischen Befreiungsbewegung den ewig verfolgten Jüdinnen und Juden „den aufrechten Gang wieder gelehrt“ (S. 91); zweitens garantiere nur Israel jüdischen Menschen in aller Welt Zuflucht und Schutz.
Die geschichtsvergessene Umdeutung des Staates in nichts anderes als ein koloniales Unterdrückungsregime und die Glorifizierung des laut Améry berechtigten Ringens arabischer Palästinenser um Eigenstaatlichkeit zu einem Freiheitskampf, der mörderische Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten legitimiere und den Vernichtungswillen der gesamten arabischen Welt bestenfalls ignoriere, sei den protestierenden Linken im Westen zur unerbittlichen Ideologie geronnen. Gegen ihre Revolutionsmythologie und ihre „ver-rückt[en]“ Begriffe bringt er das Erbe der Aufklärung in Anschlag, vor dessen Hintergrund „die Linke sich am israelischen, id est: am jüdischen Problem neu zu definieren“ habe (S. 107).
Hatte Améry zunächst unter den Eindrücken des Sechstagekriegs und des zunehmenden antisemitischen Terrors in Europa seine unbedingte Solidarität mit Israel erklärt, scheut er in den späteren Essays keineswegs die differenzierte Auseinandersetzung mit der israelischen Politik. Die schärfste Kritik formuliert er aus Anlass des Bekanntwerdens von Vorwürfen der Folter an arabischen Häftlingen in israelischen Gefängnissen und an den chauvinistischen Tendenzen der nationalreligiösen Regierung Menachem Begins im Text Grenzen der Solidarität (1977). Nach genauer Abwägung von vorliegenden Informationen und der Reflexion seiner eigenen Position in der Diaspora hält er indessen daran fest, dass im Nahen Osten allein Israel „Demokratie“ und „Humanität, die beide unteilbar sind und von denen nichts abzuhandeln ist“, gewährleiste. „Aber auf wie lange?“, ist die Frage, deren „Antwort“ nach Améry „jene geben müssen, die mehr sind als ‚die Verantwortlichen‘, nämlich: verantwortlich“ (S. 126).
Die Siedlerbewegung, die jüngere israelische Politik und das Leid der Zivilbevölkerung im Krieg gegen die Hamas, den Islamischen Dschihad in Palästina und die Hisbollah machen diese Frage heute dringlicher denn je. Der seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 international entfesselte Antisemitismus hat eine eindeutige Antwort parat. Diese zeigt, dass Amérys Analyse von linkem „Purismus“, „Eifer“ und „linke[r] Tugend (im Sinne Robespierres)“ (S. 52) in puncto Israel keiner Aktualisierung bedarf.
Karl-Markus Gauß hat jüngst in der Neuen Zürcher Zeitung auf die Deutungskämpfe hingewiesen, die von der identitätspolitischen Linken um das Werk Amérys geführt werden. In verfälschender Lektüre wird behauptet, „Améry habe Israel als zionistischer Kolonialmacht zuletzt die Treue aufgekündigt“. So leicht hätte er es sich, davon zeugen die Essays in Der neue Antisemitismus, auch heute nicht gemacht. Vereindeutigung des Nahostkonflikts und wohlfeile Parteinahme waren seine Sache nicht.
„Ich werde ‚meschugge‘“3, schrieb er seinem Freund, dem Germanisten Hans Mayer, im März 1976 aus Tel Aviv. Und wenig später hielt er öffentlich fest: „Das Ganze buchstäblich zum Irrsinnigwerden in seinen Kontradiktionen. Und doch erscheint es vielen so einfach“ (S. 116). Einfacher offenbar als das von Améry erbetene „Minimum an gutem Willen und Gerechtigkeitssinn im politischen Urteil“ und ein „Quentchen gesunden Menschenverstandes“ (S. 61) als gemeinsame Gesprächsgrundlage aufzubringen. Im Verzicht darauf trifft sich der Mob auf der Straße mit intellektuellen Eliten der akademischen Welt und des Kulturbetriebs.
1 Jean Améry, Werke, hg. v. Irene Heidelberger-Leonard, Bd. 8, Stuttgart: Klett-Cotta 2007, S. 525.
2 Jean Améry, Werke, hg. v. Irene Heidelberger-Leonard, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 314.
3 Jean Améry, Werke, hg. v. Irene Heidelberger-Leonard, Bd. 8, Stuttgart: Klett-Cotta 2007, S. 525.
Thomas Assinger (*1989 in Villach), Literaturwissenschaftler und Literaturvermittler, arbeitet derzeit als Senior Scientist am Stefan Zweig Zentrum der Universität Salzburg. Studium der Germanistik, Romanistik und Slawistik in Wien und Konstanz, Tätigkeit als Universitätsassistent für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Wien und Salzburg. Publikationen, Vorträge und Veranstaltungen zur österreichischen, deutschen und italienischen Literatur- und Kulturgeschichte ab dem 18. Jahrhundert mit Schwerpunkten auf Literatur und Theater der Aufklärung, klassischer Moderne und Gegenwartsliteratur.