#Roman

Der Sohn des Knochenzählers

Evelyn Grill

// Rezension von Claudia Peer

Es sind die ausgegrenzten, die einsamen, eigensinnigen, unverstandenen oder körperlich beeinträchtigten Menschen, welche im Zentrum von Evelyn Grills Aufmerksamkeit stehen. In ihrem Roman Der Sammler tötet der reiche Messie Alfred Irgang nachts Küchenschaben und hortet sie in der zugemüllten Wohnung fein säuberlich in Zündholzschachteln. Wilma, das elternlose, als hässlich beschriebene, entwicklungsverzögerte Mädchen in dem gleichnamigen Roman, trifft zufällig auf die suchende Liebe der einsamen Agnes, die nun auflebt mit ihrem Pflegekind, das sie umsorgt, bis es später, nach einer Vergewaltigung, bei der Geburt eines toten Kindes stirbt.

Hier ist es Titus, der einst wunderschöne Jüngling, dem das Schicksal bei einem Bubenstreich einen Streich spielt, von dem er sich nie erholen wird. Das Brandmal ist gesetzt, die Unschuld unwiederbringlich. Aber von vorn: Wir schreiben das Jahr 1985 und befinden uns in Hallstatt im Salzkammergut, wo die Autorin lange gelebt hat. Von der vermeintlichen Idylle ist hier nichts spürbar. Im Winter gibt es monatelang kein Sonnenlicht, die Gespräche sind karg, die Unterhaltungsmöglichkeiten begrenzt, Sitten und Gebräuche althergebracht, Halt gebend und einengend. Die Umgebung lässt auch körperlich keinen Freiraum zu: Zwischen See und Berg eingeklemmt, hat man das Ausharren eingeübt.

In dieser Enge wächst Titus auf. Sein Vater Franziskus, der angesehene, wenn auch als unnahbar verrufene Dr. Hofrat, ist Leiter des Archäologischen Instituts. Die schöne Benita hat er von einer Arbeitsreise nach Italien aus Palermo oder Meran mitgebracht. Sie kann sich nicht in die Gemeinschaft einfügen bzw. von ihr aufgenommen werden. Alleinige Ausflüge nach Salzburg sind ihr Lebenselixier. So wie ihr Sohn, den sie abgöttisch liebt und an den sie sich klammert, bis zu dem Tag, als das Unglück geschieht. Bei einer Sonnwendfeier springt Titus vom Stand weg über das Feuer und fällt hinein. Sein einziger Freund Connie, der eine Lehrstelle als Bootsbauer bei seinem Vater hat, zieht ihn heraus. Eine Gesichtshälfte ist verbrannt. Auch Operationen können an dieser Entstellung nichts mehr gutmachen. Mit diesem Umstand kommen die Eltern nicht zurecht. Selbst ihnen fällt es schwer, ihrem Sohn in die Augen zu sehen. Titus verfällt. Er wird zu einem anderen.

Heute, Jahre später, ist Benita seit acht Monaten verschwunden. Früher kümmerte er sich liebevoll um die Hamster, die er von Connie bekam. Jetzt ertränkt er sie in der Zisterne oder lässt sie verhungern, weil er sie vergisst. Titus hat sich vergessen. Seine geliebte Mama, deren Kleiderduft er in sich einströmen lässt, ist nicht mehr da. Sein Vater hat jetzt eine Assistentin aus Wien, die sogar in ihrem Haus wohnt. Mit seinem Sohn hat er nie gelernt zu sprechen. Man hat Titus vergessen. Er erscheint nur noch als bedauernswertes Gespenst, vor dem sich die Mädchen fürchten.

Der Vater will ihn aus dem Haus haben und vermittelt ihn an den neuen Friedhofswärter Luzius Zanotti. Dass dieser Mann Unheil ins Dorf bringen würde, spürt Agnes vom Moment seines Erscheinens an. Wilmas Agnes, die hier wieder auftaucht, als Dienstmädchen im Hause des Knochenzählers. Nach 20 Jahren trauert sie immer noch um ihre Wilma – und diesen Schmerz kann ihr auch ihre Freundin Ev nicht nehmen. Wie Ev und Wilma spekuliert das ganze Dorf darüber, was es mit Benitas Verschwinden auf sich haben könnte. Hat sie die Mafia entführt oder ist sie mit einem Liebhaber abgehauen? Doch zeigt auch dieses Buch: Die Wirklichkeit ist grauenvoller als unsere Vorstellungskraft.

Evelyn Grill erzählt einmal mehr mit knapper, schnörkelloser, ja abgeklärter Sprache von der provinziellen Welt, dem Individuum in einer angepassten Masse, der Katastrophe zwischen vermeintlicher Sicherheit und den Feinden in den eigenen Reihen.

Evelyn Grill Der Sohn des Knochenzählers
Roman.
St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz, 2013.
136 S.; geb.
ISBN 9783701716050.

Rezension vom 01.05.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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