Otto Pöggeler ist Philosoph, Heidegger-Forscher und steht, wie seinem Buch zu entnehmen ist, Hans Georg Gadamer freundschaftlich nahe. Auch mit Paul Celan war er befreundet, und er beruft sich bei vielen seiner Interpretationen auf Aussagen des Autors selbst. Dieses Wissen aus erster Hand trägt nicht wenig zur Selbstsicherheit bei, die aus allen Urteilen Pöggelers spricht. Wenn er sich z.B. gegen den Versuch verwahrt, Celans Gedichte in die Nähe der französischen Lyrik der Moderne zu rücken, schreibt er: „Völlig fremd blieb mir dann (und auch ihm) die Deutung des Gedichts aus einer absoluten Metaphorik in der Tradition Mallarmés.“ Wer sich so einig mit dem Autor weiß, wird wohl kaum Zweifel an der prinzipiellen Richtigkeit seiner Interpretationen haben. Zwar wird die Frage, ob Celans Lyrik überhaupt im traditionellen Sinne „interpretierbar“ sei oder nicht, seit längerem diskutiert. Wer dies bezweifelt, versteht Celans Lyrik meist als eine Spielart der radikal modernen Poesie, die jede Beziehung zur außerliterarischen Welt abgebrochen hat. Eben dies wurde schon zu Lebzeiten des Dichters mehrfach behauptet, und als sinnfälligster Beweis für die Behauptung wurde „die absolute Metapher“ angeführt, die nicht „für etwas steht“, sondern fremd und unnahbar ihr Recht gegen jede Übersetzung in die diskursive Sprache behauptet. Gegen dieses Verständnis von Celans Lyrik polemisiert Pöggeler im Namen des Autors: Celan, so wird er nicht müde zu betonen, wollte seine Lyrik als Lebenszeugnis verstanden wissen, also muß man sie in diesem Sinne deuten. Und, was fast noch wichtiger ist: was man muss, das kann man auch, sofern man sich nicht allein in die Texte versenkt, sondern auch in die Lebensumstände des Dichters, die zu manchen rätselhaften Stellen der Gedichte einen Kommentar liefern, wie Pöggeler an vielen Beispielen zeigt.
In diesem Punkt bestünde – siehe Daniela Strigls Rezension – kein Dissens zwischen Pöggeler und Jean Bollack. An anderen, keineswegs unwichtigen, Problemen scheiden sich jedoch die Geister dieser beiden Celan-Leser. Das zeigt sich vor allem dort, wo Pöggeler die Beziehungen zwischen Paul Celan und Martin Heidegger zur Sprache bringt. Wie Celan, war auch Pöggeler mit Heidegger persönlich bekannt, und so fühlt er sich zu der Behauptung berechtigt, der deutsche Philosoph, der mit den Nationalsozialisten kollaborierte, und der jüdische Dichter, dessen Eltern von den Nationalsozialisten ermordet wurden, seien respektvoll und in wechselnder Lernbereitschaft aufeinander zugegangen. Zwar verschweigt auch Pöggeler nicht, dass Celan unter Heideggers Nazivergangenheit litt und jenes klärende Wort vom Philosophen forderte, das dieser niemals sprach. Doch leitet er daraus nicht ab, dass der Dialog zwischen dem Philosophen und dem Dichter notwendig habe scheitern müssen. In diesem Zusammenhang kommt es auch zu einer expliziten Polemik gegen Jean Bollack: Der nämlich hatte in einem Aufsatz von 1998 behauptet, Celan habe Heideggers Bekanntschaft nur gesucht, um ihn „vor das Gericht der Toten zu stellen“ und zu verurteilen. Dem widerspricht Pöggeler mit philosophiegeschichtlichen und persönlichen Argumenten aufs Schärfste.
Gewiß wird man Otto Pöggeler nicht gerecht, wenn man seine Celan-Essays nur als „Anti-Bollack“ liest. Man findet im Buch eine Fülle von Deutungen und Kommentaren, die zum Verständnis der schwierigen Gedichte Celans beitragen. Dennoch steht sein Buch in einem grundsätzlichen und an mehreren Stellen thematisierten Widerspruch zu seinem Kontrahenten. Während der jüdische Franzose Bollack nämlich zu zeigen versucht , dass Celans Lyrik mit der abendländischen Tradition unwiderruflich gebrochen habe, bemüht sich der katholische Deutsche Pöggeler um den Beweis des Gegenteils: Er ist überzeugt, daß Celan im Unterschied zu den meisten anderen Lyrikern der Moderne in der Kontinuität großer europäischer, und damit auch deutscher Traditionen stehe. Wohl räumt Pöggeler ein, daß die Stadt Rom und alles, was sie symbolisiert, nicht in Celans Blickfeld lag. Und ebenso läßt er nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, daß Celans Hinwendung zur Tradition unwiderruflich von der Erinnerung an den Holocaust belastet war. „Der Stein hinterm Aug“, von dem der Titel des Buchs mit einem Celan-Zitat spricht, steht genau für diese Erinnerung ein, die alle Wahrnehmung der Gegenwart prägt, aber auch jede Beschäftigung mit der Vergangenheit. Und dennoch besteht Pöggeler – wieder in ausdrücklicher Wendung gegen Jean Bollack – darauf, dass Celan sich nicht nur auf die Tradition bezieht, um sie zu negieren, sondern dass er positive Gegenkräfte in ihr erkennt, die er in seiner hermetischen Lyrik zu bergen und zu bewahren sucht.
Die Frage, wer in diesem Disput recht hat, könnte nur jemand beantworten, der sich genau so viel „traut“ wie Bollack oder Pöggeler. Wer die interpretatorische Unfehlbarkeit jedoch scheut, wird sich mit der Feststellung begnügen müssen, dass es auf beiden Seiten bedenkenswerte Argumente gibt – und dass dies angesichts einer so vieldeutigen und schwer verständlichen Lyrik wie der Celanschen auch kaum anders sein kann.