Phantastisch ist alles: man liebt sich unter Wasser, im Schnee, im freien Fall. Am schönsten ist die Geschichte, wo sich die beiden in einem Brotlaib lieben, ofenwarm, geschützt durch die feste Kruste. In allen Fällen ist es Liebe im Extremen, in einem Urzustand, wo das Phantastische nicht ein Auswuchs, sondern die Triebkraft der Entwicklung ist: Träume als Vorbild für die Wirklichkeit. Diese Urliebe muß sich bewähren im Heißwasser tiefer Sümpfe, im kalten Stahlbeton der Städte, im jahrelangen Irren, im Begafftwerden durch ein „Fratzenmeer“ von Neidern. Alptraumhafter Ernst bisweilen, Prüfungen wie bei indischen Asketen. Mißgünstig gesehen, grenzt manches an Comic-Brutalität. Aber so sind eben echte Träume: sie kondensieren die Wirklichkeit zu einem Niederschlag, in dem ihre Elemente getrennt und pur erscheinen. – Die Liebe bei Ragger kennt keine inneren Probleme: im Innern des Kokons wirkt ungestörte Zärtlichkeit. Konflikte werden außen ausgetragen, dort ist der Kriegsschauplatz. – Außer den beiden Liebenden treten nur wenige Figuren auf, durchwegs als Leit-Symbole: „der alte Mann“, manchmal als Helfer, manchmale als memento mori. Oder „die Katze“ als stummer Beobachter, die das geflossene Blut aufleckt, oder am Boden festfriert, stellvertretend wie ein Tieropfer. So regt alles, wie bei echten Träumen, sogleich zur Deutung an.
Die Einzelbilder des Phantastischen sind real: Fußwanderungen führen durch Gebirge, Wälder, Straßen, Häuser. Der Schnee wird kindlich begrüßt wie der erste Schnee des Jahres, der Winter mit einer Wehmut verabschiedet, als wäre er der letzte des Lebens. Tagszenen, die in der Nacht besonders plastisch, farbig werden. Der Liebesrausch erweitert die Wahrnehmung wie eine Droge und zeichnet auch das beiläufig Erfaßte scharf und genau.
Ragger arbeitet mit einfachen Mitteln: kleine Bildausschnitte, wie sie klaren Träumen eigen sind. Der Blickkegel des Träumenden wandert ruhig geführt über die Landschaften, romantisch-einladend, wo er verweilt, surrealistisch-überraschend, wo er springt. Keine Wortextravaganz, kaum Wortspiele. Konsequente Kleinschreibung und der Verzicht auf Satzzeichen machen den Fortgang flüssig. In diesem Strom lagern sich die Satzteile bereitwillig aneinander: die Sprachstruktur entspricht dem linearen lückenlosen Fluß des Traums. Beim Lesen schütteln sich von selbst Gedichtzeilen zurecht, obwohl der Text fortlaufend ausgeschrieben ist. Das Layout gliedert hilfreich die größeren Gedankenfelder zu Strophen. Prosapoesie.
Gernot Ragger war immer schon „süchtig nach Einsamkeit“, von seinem ersten, dem Leuchtturm-Roman auf den Hebriden Scalpay (1989), bis zu seinem vorletzten Buch, dem Kreta-Bericht 365 (1996). Jetzt ist daraus Einsamkeit zu zweit geworden.