„Davor“: Das ist die genau archivierte Kindheit in einer jüdischen Familie des unteren Mittelstands, ein geschützter Kosmos in der Topografie von Naschmarkt, Schleifmühlgasse und Margaretenstraße, mit Versatzstücken von Glück: Briefmarkensammlung, Großeltern und Sommerfrische.
„Danach“: Im März 1938 wird diese Keimkapsel brutal aufgeschlagen, das Innere nach außen gestülpt. Die Eltern schicken ihre Kinder zu entfernten Verwandten nach New York, wo Rennert als Laufbursche arbeitet. Später reißt er von zu Hause aus, trampt quer durch die USA und bringt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Mit der Rückkehr nach Deutschland als alliierter Soldat und der Heirat enden die Aufzeichnungen.
Eindringlicher kann kaum vermittelt werden, welchen Lebensbruch das Exil bedeutete und mit wieviel Anpassungfähigkeit und pragmatischer Energie die Kinder und Jugendlichen mit dem Trauma umgingen. Auch wenn er heute davon berichtet, vermeidet Rennert, in die „Risikolandschaft teils verblichener, teils verdrängter Bilder“ (beide Eltern wurden im Holocaust ermordet) zu geraten, und leitet den „verästelten Gedankenstrom“ um.
Wie Jakov Lind, über dessen Autobiografie Marcel Reich-Ranicki 1970 sagte, Lind erzähle nicht als Opfer oder Chronist vom Überleben, sondern aus der Perspektive des „scheinbar gutgelaunten und fast übermütigen Schelms“ – wie Jakov Lind beherrscht Rennert das Verfahren, sich abseits zu stellen, in die Rolle des Beobachters seiner selbst umzusteigen. Aus der Distanz trifft er einen leichten Ton mit einem Anflug von Selbstironie, das Pathetische oder Bittere wird nie bestimmend. Lesenswert an diesem Buch sind auch die vielen Beispiele von Akkulturation eines Jugendlichen durch Literatur, Filme und die zeitgenössische Unterhaltungsmusik Amerikas.
Erwin Rennerts Autobiografie ist ein Lehrstück für die Bewältigung von Katastrophen durch Wahrnehmung des Positiven: „A good beginning makes a good ending“ bringt es die New Yorker Ziehmutter Fanny auf den Punkt.