„Frau Beerenberger, haben sie nachgedacht?“, sagt der Berater, „Frau Beerenberger, bitte schreiben Sie drei Bewerbungen pro Woche. … Frau Beerenberger, wir sehen einander in einem Monat wieder, bis zum nächsten Mal möchte ich, dass Sie über die Möglichkeit einer Umschulung nachgedacht haben.“
Sängerin, denkt Maria, Sängerin wäre sie gern geworden. Wenn Eduard zurückgekommen wäre, wie er es versprochen hatte, als sie entlang der Muttermale eine Landkarte auf seinen Rücken zeichnete. „Hier werden wir leben“, hatte er gesagt, und „Maria, träum doch mal.“ Doch als er zurückkam, brachte er ein Mädchen aus der Stadt mit, sie war schwanger, und Maria hörte auf zu träumen und lernte Textilfachverkäuferin, lernte alles über Stoffe und Farben und Schnittmuster, sie achtete auf ihr Auftreten – eine schlanke Figur und gepflegte Hände sind wichtig in ihrem Beruf – und heiratete Walter, einen Automechaniker. Sie zog mit ihm bei den Schwiegereltern ein, auf die Schattseite des Dorfes, und später, als sie genug gespart hatten, in eine Mietwohnung in die Stadt.
„Ich weiß zwar nicht, wie ich mit dir leben soll, aber ohne dich geht es auch nicht“, hatte Walter gesagt, als er ihr den Antrag machte, und sich vor sie hingekniet, einen Strauß Rosen in der Hand. Er hatte sich gekämmt, aber die Arbeitshose hatte er anbehalten. Ein Leben, überschreibt Anna Weideholzer dieses Kapitel, es ist nur ein paar Zeilen lang, und doch enthält es alles, was ihren Roman Der Winter tut den Fischen gut so besonders macht: die klare, reduzierte Sprache, den ganz eigenen, zwischen Melancholie und Komik schwebenden Ton, den genauen Blick für die kleinen Details, die den Alltag ihrer Figuren zum Leuchten bringen.
Schon in ihrem erfolgreichen literarischen Debüt, dem Erzählband Der Platz des Hundes waren es einfache Leute, Arbeiter, Arbeitslose, Außenseiter, denen Anna Weidenholzer ihre Aufmerksamkeit schenkte. Auch in ihrem nun bei Residenz erschienenen ersten Roman leiht sie einer Abgehängten ihre Stimme: Maria Beerenberger ist Ende vierzig, verwitwet, keine Kinder – und sie ist arbeitslos. Weidenholzer erzählt ihre Geschichte voller Zuneigung, ohne Spott, mit feinem Sinn für ihren Stolz, ihre Scham. Dieses besondere Einfühlungsvermögen, der Blick für die verborgene Schönheit des Alltags und ein leiser, lakonischer Humor bewahren sie vor Kitsch und holen Maria gleichzeitig schonungslos und würdevoll ins Dasein zurück.
Der formale Kniff, Marias Leben rückwärts zu erzählen, trägt dazu in besonderer Weise bei. Während uns Maria anfangs als stille, einsame Frau am Rande der Gesellschaft begegnet, lernen wir sie im Lauf der erzählten Begebenheiten als sachkundige Verkäuferin, geschätzte Kollegin, selbstbewusste Ehefrau und verliebtes Mädchen kennen. Wie in einem Photoalbum blättern wir zurück, sehen Maria und ihre Kaulquappenzucht, Maria im Kreis sich drehend zu Hildegard Knef, Maria und ihre Nichte im Schnee, ihren Ehemann Walter im Elviskostüm, Maria schüchtern lächelnd im Bierzelt, im leuchtenden Badeanzug am Seeufer, konzentriert beim Apfelschlangenschälen in der Küche ihrer Tante – liebevoll versponnene Momentaufnahmen gelebten Lebens. Und mit jedem Mosaikstein gibt Anna Weidenholzer Maria ein Stück ihrer Würde zurück, die sie als Arbeitslose in den Augen der Familie, des Arbeitsmarktservice, der Leistungsgesellschaft zu verlieren droht. Jeder Tag Arbeitslosigkeit kostet Sie Geld. Mit jedem Tag Arbeitslosigkeit verlieren Sie an Marktwert, warnt der Ratgeber In 90 Tagen aus der Arbeitslosigkeit, den Marias Schwester ihr ins Gepäck geschmuggelt hat. Nicht jammern – jagen! Innerhalb von drei Monaten, so will es der Autor Hans-Georg Willmann, sollen aus schlaffen Arbeitslosen dynamische Bewerbungsprofis werden. Der brutale Unterton einer solchen Rhetorik, die Arbeitslosigkeit als selbstverschuldetes Versagen der Betroffenen beschreibt, lässt einen frösteln.
Dieser sozialen Kälte und Herablassung setzt Anna Weidenholzer Anteilnahme und unvoreingenommenes Interesse entgegen. In Vorbereitung ihres Romans hat sie viele Interviews mit arbeitslosen Frauen geführt, die für andere oft unsichtbar sind. Es ist ihre Geschichte, die sie in diesem Roman erzählt. Dabei beschönigt sie nichts – Der Winter tut den Fischen gut ist ein gänzlich unsentimentaler Roman über Einsamkeit und Überforderung, über Perspektivlosigkeit und verlorene Träume. Doch sie findet dafür einen ganz eigenen Ton – klar, beinahe spröde, und dabei von großer Verletzlichkeit und unkonventioneller, seltsam tröstlicher Schönheit.
„Und heute sage ich still, ich soll mich fügen, begnügen. Ich kann mich nicht fügen, kann mich nicht begnügen, will immer noch siegen, will alles, oder nichts.“