Etwa für Alfred, den Protagonisten von Ewald Baringers neuem Roman, dessen Titel gut auf Alfred passt: Er ist ein Zaunprinz. Nach Jahrzehnten in einem österreichischen Ministerium, in dem ihm der Aufstieg nach anfänglichen Erfolgen nie gelang, kündigte der beinahe, aber doch nicht promovierte Germanist. Er hätte die Königskrone haben können. Diese ist für ihn „ein sinnerfülltes Leben“. Anstatt aber wie der Zaunkönig listig dafür zu kämpfen, sah er es als sicheres Erbe an und bekam es daher nicht, versäumte es. So erzählt er es sich zumindest.
Zu Beginn der Handlung wird aber gerade er damit betraut, sich um ein Erbe zu kümmern. Er erhält das „Schreiben eines römischen Notars“, das die „Abwicklung von Mariannes Verlassenschaft“ betrifft. Marianne war vor dreißig Jahren Alfreds Freundin, als er in Rom an seiner Dissertation arbeitete. Nun ist sie tot. Die Zeitungen schreiben, dass es Selbstmord war. Alfred will sich nicht festlegen: „Sie ist ertrunken […]. Mehr weiß man nicht. Wer geht schon ins Wasser, wenn er sich umbringen will.“ Das sagt er Angelo, Mariannes Hausmeister. Der fragt Alfred, woran seine Beziehung zu Marianne scheiterte. Alfred brauchte Arbeit. Der Ministeriumsposten war sicher, die Zukunft in Rom, wo Marianne bleiben wollte, nicht.
Nach all den Jahren, in den er sich „gestrandet“ in Wien fühlte, zurück im geliebten Rom, weiß Alfred aber nicht recht, was er hier tut. Mariannes Begräbnis verpasste er, weil er sich zum Zeitpunkt ihres Todes eine Internetpause verordnet hatte. Und ihr Grab findet er nicht, weil er den Zettel mit ihrer Grabnummer im Hotel vergisst.
Von verschiedenen Seiten hört er Geschichten über Marianne, die ihm aber auch nicht weiter helfen. Angelo geht fest davon aus, dass Marianne sich umbrachte, es „sei doch in der Zeitung gestanden“. Ihr Vertrauter Pepe, über Jahrzehnte „der letzte Verbindungsfaden zwischen Marianne und Alfred“, sagt nur, dass in „den letzten Jahren […] ein Dottore auf der Bildfläche“ aufgetaucht sei, „ein vornehmer Römer“, der vielleicht Mariannes Freund war.
Nur jener Teil aus Mariannes Erbe, der Alfred zukommt, ist unangenehm klar für ihn. Es ist „lediglich ein Kuvert […], in dem sich ein Blatt Papier befand, auf dem mit Tinte ein einziger Satz geschrieben stand: Non c’è spazio per vie di mezzo. Darunter eine längere Zahl, vermutlich eine Telefonnummer, mit Kugelschreiber hinzugefügt. Das war alles.“
Es ist kein Platz für Mittelwege. Damit spielt Marianne auf ihr letztes Gespräch in Wien vor zwei Jahren an. Damals ’schenkte‘ sie ihm „zum Abschied einen Satz […]. Er ist von Arnold Schönberg […] und lautet: Der Mittelweg ist der einzige, der nicht nach Rom führt.“
Der Satz stammt aus Schönbergs Vorwort zu Drei Satiren für Chor, das die Ziele der Satiren eindeutig benennt. In der ersten Gruppe der Angesprochenen sind jene, „die ihr persönliches Heil auf einem Mittelweg suchen […], die an den Dissonanzen naschen, also für modern gelten wollen, aber zu vorsichtig sind, die Konsequenzen daraus zu ziehen“. Mit diesem Satz wirft Marianne Alfred vor, sich nicht entscheiden zu können. Er weiß es, hat er sich die Geschichte seines Versagens doch schon oft erzählt.
Alfred scheint „sein ganzes Leben eine Ansammlung von Versäumnissen“, „ohne roten Faden, ohne schlüssige Dramaturgie, im Rückblick wie eine schlecht erzählte Geschichte, mit vielen blinden Fährten, sprunghaften oder redundanten Wendungen, andererseits ereignislos, langweilig, zu unattraktiv für jeden noch so geneigten Zuhörer.“ Auch für Zuhörerinnen, denn die würden „auf den Märchenprinzen“ warten und in ihm nicht „ihren wahren Prinzen“ erkennen. Keine seiner Beziehungen hält lange.
Nach diesem Eingeständnis auf ungefähr halber Romanlänge lässt Baringer Alfred in einer Wendung, die nicht redundant ist, in ein Abenteuer geraten, in die Möglichkeit, seiner Lebensgeschichte ein gänzlich anderes Kapitel anzufügen.
Zunächst lernt er, scheinbar zufällig, den Römer Bavarese kennen. In dessen Wohnung kann er übernachten, nachdem er Probleme in seinem Hotel hatte. Und dann ruft er die Nummer unter Mariannes Erbe an. Er vermutet, dass sie Helene Mayr gehört, eine Freundin Mariannes, die in Tropea wohnt. Das ist jene Küstenstadt, vor der Marianne starb. Doch ist er sich nicht sicher, ob er wirklich mit Helene spricht.
Wie Baringer dieses Stränge miteinander verflicht, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel, dass der Roman eine schlüssige Dramaturgie besitzt und mit Alfreds Unlust, sich zu entscheiden, auch einen eindeutigen roten Faden, was Alfred auch weiß und was ihn quält.
Er erzählt sich seine Lebensgeschichte wie angesprochen zwar als ein „Versäumen entscheiender Momente“, träumt aber auch davon „ein Held, mutiger Retter der Bedrohten und Schwachen“ zu sein. Er ist aber selbstkritisch: Für „diese Rolle [ist er] zu ängstlich“.
Und nicht einmal, wenn er sein Leben als Fabel erzählt, entkommt er seiner Unentschiedenheit. Auf die Frage, als welches Tier er sich sehe, würde er gerne Kater antworten: „Eigensinnig, zärtlich, freiheitsliebend und ein bisschen wild“. Drinnen fühlt er sich aber wohler als draußen und wenn er sich doch mal dort hinaus wagte, „schlugen ihm Wind und Hagel ins Gesicht.“
Aus dem Wiederkäuen der Geschichte und der Fabel entwickelte sich in ihm „die Sucht, voyeurhaft am Leben anderer teilzuhaben“. Im Gegensatz zu deren interessanten Leben erscheint ihm sein eigenes banal. Dabei hatte er früher noch die Hoffnung, das ändern zu können.
Er erinnert sich, dass er sich als „junger Mensch […] auf dem Weg in eine auf unbestimmte Weise wunderbare Zukunft gesehen hatte, nun war er ein desillusionierter Realist.“ So war er 1976 etwa „Zaungast“ bei der Besetzung des Schlachthofs Sankt Marx. In der Rückschau wirft er sich vor, dass hinter „dem Zaun […] das Leben gewartet“ hätte. Über diesen Zaun ist er damals aber nicht gesprungen. Oder geflogen. Und Marianne wirft ihm bei ihrem Wiener Gespräch vor, „immer noch in der Vergangenheit“ zu leben und seine „unerträgliche Larmoyanz“ zu zelebrieren.
Diese Rührseligkeit führte wohl auch dazu, dass seine „Lieblingsbeschäftigung“ das Schauen von Live-Mitschnitten auf Youtube ist. „In einer Mischung von Sentimentalität und Fassungslosigkeit hörte er die alten Pop- und Rocknummern von früher, verglich Aufnahmen von vor drei Jahrzehnten und heute, nahm wahr, wie die Idole von einst gealtert waren […], und fühlte doch noch immer jene Energie, die von der Musik einstmals ausgegangen war.“ Die Idole und er selbst sind älter und alt geworden, die Lieder dieselben und unverbraucht geblieben.
Einer der Mitschnitte ist Hurt, gesungen von Johnny Cash ein Jahr vor sei-nem Tod und geschrieben von Trent Reznor für Nine Inch Nails. Ein Cover, eine Art Nacherzählung also, durch die das Lied wie eine Geschichte oder eine Fabel am Leben gehalten wird. Baringer stellt seinem Roman einen Ausschnitt des Liedtextes als Motto voran: „If I could start again / A million miles away / I will keep myself / I would find a way“.
Warum sich nicht im viel näher als eine Million Meilen entfernten Italien für einen Neustart entscheiden, könnte Alfred sich beim Hören von Johnny Cashs brüchiger Stimme fragen und erkennen, dass er weder Märchenprinz noch Zaunkönig sein muss, um andere, neue Geschichten erzählen zu können.
Ob ihm das gelingt, lohnt es herauszufinden. Denn Ewald Baringer erzählt Alfreds Geschichte so kurzweilig und ereignisreich, dass man gerne zuhört.