#Roman

Der zweite Jakob

Norbert Gstrein

// Rezension von Helmut Sturm

Ja, Norbert Gstrein ist ein Erzähler, der wie kaum einer sein Handwerk versteht. Klar, dass bei dem Titel Der zweite Jakob gleich die Suche nach dem ersten Jakob beginnt. Und es gibt eine Antwort im Roman und eine im Werk Gstreins (in der Erzählung „Einer“ aus dem Jahr 1988) und eine im weiteren Feld der Literatur. Es gibt keine Eindeutigkeit, aber das wird in den Worten Christoph Schröders aus “ Die Zeit“ bereits auf dem Klappentext fest gehalten.

Nach „Die kommenden Jahre“ (2018) und „Als ich jung war“ (2019) wechselt der Schauplatz der Erzählung wieder zwischen Europa und den USA. Auch thematisch hat das vorliegende Buch einiges mit den genannten Werken gemeinsam. Der Umgang mit Migration, die Frage danach, was denn nun moralisch richtiges Handeln sei, sexuelle Grenzüberschreitung, Missbrauch, die Möglichkeiten und Wirkungen von Medien sind Fragestellungen, die in „Der zweite Jakob“ eine zentrale Rolle spielen. Die bewundernswerte Leistung Norbert Gstreins besteht darin, dass all diese abstrakten Probleme uns Leserinnen und Lesern in einer fesselnden Erzählung vorgestellt werden. Wir sollen die eigenen, die richtigen Schlüsse ziehen. Das gilt vor allem auch bei der Frage nach der Identität, die letztlich im Zentrum dieses Romans steht.

Es gibt im Buch den erfolgreichen Innsbrucker Schauspieler und Ich-Erzähler Jakob Thurner, der sich nach seinem Onkel Jakob und nach seiner Großmutter Thurner nennt. Er hat seinen eigentlichen Namen mit „den vier aufeinanderfolgenden Konsonanten“ auf den Ratschlag eines Regisseurs hin geändert. Der Regisseur meinte, es gebe für ihn, einem „Niemand aus der österreichischen Provinz“, in der Filmbranche sonst „kein Licht“. Wenn der Name ein Merkmal der Identität eines Menschen ist, tut dieser Mann für eine Karriere doch einiges. Thurner hat einen Biografen, dessen Namen, Elmar Pflegerl, er sich nicht gerne auf dem Buchcover über dem seinen vorstellt, weil Thurner die Befürchtung hat, die „erl“-Endung strahle ungut auf ihn aus und mache am Ende sein ganzes Leben zu „einem kleinen Leberl“. Neben der möglichen Wirkmacht von Namen tut sich mit dem Biografen der Graben zwischen Innen und Außen, Selbst- und Fremdbild auf. In diesem Fall, wie vermutlich nicht selten, eskaliert der Konflikt zusehends.

Onkel Jakob wurde in der NS-Zeit in ein Heim für „Gemütskranke“ abgeschoben und dadurch schwer traumatisiert. Der Schauspieler hat aus dritter (gescheiterter) Ehe die Tochter Luzie, die in ein englisches Internat gesteckt wird. Sie kämpft mit dem Leben und der Vater mit Schuldgefühlen. Sie ist es auch, die die am Umschlag angeführte Frage, „Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?“ stellt. Die Frage führt zu einem Erinnerungsprozess, in dessen Folge lange zurückliegende Dreharbeiten an der texanisch-mexikanischen Grenze rekonstruiert werden. Es geht dabei um Gewalt in vielfältigen Formen. Auch um die Frage des Schuldig-Seins.

Jakob spielt in dem Film einen brutalen Grenzpolizisten, der zum Killer wird. Als Frauenmörder hat er sich schon davor in der Filmwelt einen Namen gemacht. Inwiefern gibt es Berührungspunkte zwischen der Welt des Mediums Film und der Welt des aus einer Tiroler Hoteliersfamilie stammenden Schauspielers? Die Auseinandersetzung mit dem Biografen Pflegerl und der bevorstehende sechzigste Geburtstag zwingen Jakob dazu, Stellung zu beziehen.

Bei den Dreharbeiten in Texas ist ein Mexikaner namens Enrique Brausen als Begleiter einer mexikanischen Schauspielerin eine abgründig mysteriöse Figur. Bereits gegen Ende des Romans und dann noch einmal ganz am Schluss wird von Norbert Gstrein aus der Erzählung „Das Gesicht des Unglücks“ von Juan Carlos Onetti zitiert: „… ich lief fast wild, und mit einer Freude, die mich seit Jahren einzuholen versucht hatte, und die mich jetzt erreichte…“. Im Zitat schreibt der Erzähler, dass er „zwei weitere Sätze aus dieser Erzählung“ verwendet habe. Das ist wohl eine Aufforderung, Onetti zu lesen und nach diesen Sätzen zu suchen. Bei Onetti kommt übrigens auch dieser Brausen vor und wie der „zweite Jakob“ reden dessen Figuren unentwegt von sich. Der Tiroler Autor Gstrein und der Uruguaier Onetti haben zudem die Vorliebe für unzuverlässige Erzähler gemeinsam. Beide erzählen auf eine Art und Weise packend, dass man/frau sich ihnen kaum entziehen kann.

Norbert Gstrein Der zweite Jakob
Roman.
München: Hanser, 2021.
447 S.; geb.
ISBN 978-3-446-26916-3.

Rezension vom 02.05.2021

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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