Allerdings entspricht der gerade erschienene Band 10 der dtv-Literaturgeschichte den Vorgaben seines Klappentextes nur zur Hälfte. Zwar ist er weder „abstrakt“ noch „theoretisch“, doch wird man ihn ebenso wenig als „erzählerisch und unterhaltend“ bezeichnen wollen. Dies mag zu allererst am Thema liegen: Denn ob man über das Dritte Reich und das Exil überhaupt „unterhaltend“ schreiben dürfe oder nicht, ist eine Frage, die auch in unseren Zeiten der Spaßkultur noch nicht endgültig entschieden ist. Paul Riegel und Wolfgang van Rinsum jedenfalls versuchen es nicht: In betont sachlicher Sprache, die vor allem auf Kenntnisvermehrung bedacht ist, informieren sie über die Literaturpolitik der Nationalsozialisten, die schwierigen Verweigerungs- und Umgehungsstrategien der „inneren Emigration“, und die entschiedeneren literarischen Kampfformen des „äußeren“ Exils. Zur Unterhaltung trägt all das wenig bei, liefert aber gerade deswegen eine angemessene erste Einführung in die Probleme der traumatischsten Epoche der deutschen (Literatur-)Geschichte.
Die meisten Literaturgeschichten älteren Datums neigten dazu, die Literatur des Dritten Reichs und diejenige des Exils gesondert zu betrachten – wohl, um den prinzipiellen und kategorialen Unterschied zwischen Faschismus und Antifaschismus aufs nachdrücklichste zu betonen. Doch beweist die dtv-Literaturgeschichte einmal mehr, dass sich wesentliche Blickpunkte erst eröffnen, wenn man neben den Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten beachtet: Das Genre des historischen Romans z. B. wurde von dezidiert nationalsozialistischen Autoren wie Mirko Jelusich genauso gepflegt wie von Stefan Andres, Reinhold Schneider und anderen Repräsentanten der „Inneren Emigration“ oder von Heinrich und Thomas Mann im Exil. Freilich wurden die Gestaltungen historischer Ereignisse zu ganz verschiedenen Zwecken eingesetzt – doch bleibt der sehnsüchtige Blick in den fernen Spiegel der Vergangenheit ein Merkmal der Zeit, das sich in allen politischen und ästhetischen „Lagern“ wiederfinden lässt.
Einsichten dieser Art ergeben sich mehrere aus dem Überblick, den die neue Literaturgeschichte bietet. Da sie außerdem mit einer Fülle von Zitaten aus der – nicht mehr sehr geläufigen – Primärliteratur aufwartet, steht ihr Gebrauchswert außer Zweifel. Er hätte sich freilich noch beträchtlich erhöht, wenn sich die Verfasser – oder die Herausgeber der Reihe – nicht zu schade für eine Bibliographie gewesen wären. Gewiss, das Buch richtet sich ausdrücklich an Lehrer, Schüler und interessierte Laien, und nicht an ein germanistisches Fachpublikum. Doch ist das keine Entschuldigung für das Ausbleiben bibliographischer Angaben. Im Gegenteil: gerade ungeübte Leser brauchen Hilfen, um bei erwachtem Interesse ohne allzu große Mühen weiterforschen zu können. Sie aber werden nicht gegeben. Selbst Sätze wie: „Helmut Arntzen und ein Forscherteam finden für die dreißiger Jahre besonders charakteristisch das Nebeneinander und den schnellen Wechsel von Normalität und Anomalie“ bleiben ohne Fußnote, obwohl sie geradezu danach schreien. Das ist ein gravierender Mangel des sonst eher soliden und brauchbaren Bandes.