In dem Essay zu Paul Wührs Buch „Salve res publica poetica“ geht Czernin grundsätzlichen Fragen nach: was Dichtung ist; wie sie wirken kann; welche Beziehungen zu einem philosophisch-theoretischen Weltbild und Diskurs sie eingehen kann; ob die Dichtung einem solchen theoretischen Denken etwas voraus hat oder ihm vorausgeht, bzw. ob sie ihm in mancher Hinsicht unterlegen ist. Ganz dialektisch, rekonstruiert Czernin auch in dem Essay „Dichtung als Erkenntnis“ die Genese der von ihm gebrauchten Begriffe, Urteile und Ziele durch den Verzicht auf eine vorab vereinbarte Begrifflichkeit. Dadurch erweist sich das essayistische Schreiben als integrales Komplement seines Dichtens.
Czernin geht dabei von einem Gedicht, dem ersten des Wühr-Bandes, aus: „Ob // hier in was / für einem // Anfang gesagt / werden // muß dieser / Buchstabe // der aus was für / einem Laut // so ein erster / Satz // ist er verstummt / am // Ende von / keinem“. Diese Verse bergen unterschiedliche Lesarten, weil unterschiedliche Satzzusammenhänge über die Vers- und Strophengrenzen hinaus aktualisiert werden, sodaß sie in jedem Augenblick verschiedene syntaktische Konzepte bis hin zu einem asyntaktischen Hören der Einzelwörter zugleich ermöglichen. Darüber hinaus werden Wörter, die Begriffe bezeichnen (z. B. „Satz“), und solche, die dies üblicherweise nicht können (z. B. „einem“), gleichwertig behandelt, mitunter auch von einer Kategorie in die andere gehoben. Durch diese Gleichwertigkeit und die syntaktische Mehrdeutigkeit (und auch durch seine Frageform, wenn man den abgesetzen Titel „Ob“ als erstes Wort des Gedichtes liest) kontrastiert Wührs Gedicht mit den Bedingungen philosophisch-theoretischer Erkenntnis, wie sie in der Analytischen Philosophie bestimmt werden (umgangssprachlich gesagt): jedes Zeichen hat nur eine einzige Bedeutung; diese Zeichen seien als Behauptungssätze strukturiert; die einzelnen Aussagen dieser Behauptungssätze seien ebenso klar voneinander unterschieden wie das Denken und sein Gegenstand, das bzw. der sich in ihnen ausdrückt (z. B. ob es um Sprachliches oder um Dinge geht).
Was aber wäre mit der Wührschen poetischen Form der Erkenntnis gegenüber einer philosophisch-theoretischen gewonnen, fragt sich Czernin? Unter anderem gibt er sich zur Antwort: dem poetischen Denken, wie es sich in Wührs Gedicht manifestiert, eignet Prozeßhaftes und Dynamisches, Umfassendes und Universelles, im Gegensatz zum Statischen und Speziellen des philosophisch-theoretischen Denkens, so daß dieses ein Spezialfall des poetischen wäre. Dann unterscheidet sich das poetische Denken vom philosophisch-theoretischen auch durch ein Moment, das für Czernins Analyse und seine eigene Poesie und Poetik zentral ist: durch seine Übertragbarkeit. Übertragen werden kann im poetischen Denken, und speziell in der Poesie Paul Wührs, so gut wie alles, also nicht nur explizit metaphorische Wendungen: etwa die Satz- oder Aussageform der Philosophie als solche, da sie – als Ergebnis einer Auswahl gesehen – z. B. für die Frageform stehen kann. Aber auch Nichtsprachliches kann in der Poesie einer solchen Übertragung ausgesetzt sein: Begriffe wie Bedingung, Voraussetzung, Schluß, Argument, Widerspruch werden mit der Form des Philosophierens übertragbar und damit nicht nur konzeptuell sondern auch materiell verstehbar. Dadurch kann jedes aus dem Gedicht ableitbare Philosophem zum übertragenen Ausdruck von anderen Philosophemen werden (vor allem, weil diese Philosopheme als unterschiedliche auf ein und denselben Wortlaut des Gedichts zurückgehen).
Was aber auf den ersten Blick als Gewinn der Poesie in einem imaginären Kampf mit dem philosophisch-theoretischen Denken aussehen könnte (ein Gewinn durch ihre Fähigkeit, zu übertragen und übertragen zu werden), erweist sich gerade auf Grund dieser Übertragbarkeit als zweifelhaft. Denn zum einen täuscht sich eine Poesie, die vorgibt, der philosophisch-theoretische Denkstil könne nicht ein (mögliches) Moment ihrer selbst sein, über ihre Wirklichkeit (so gesehen eröffnet Wühr eine Kritik an einem ungefragt ausschließlichen poetischen Denkstil); zum anderen müßte eine Poesie, die ihren eigenen Begriff und somit sich selbst übertragbar macht, gerade erlauben, das philosophisch-theoretische Denken so zu verstehen, wie es intendiert ist, also nicht: als Poesie. Darüber hinaus kann die Poesie nicht behaupten etwas Bestimmtes zu sein und etwas anderes nicht: denn werden solcherart aufgestellte Bedingungen ihrerseits als Poesie verstanden, nämlich als Übertragung, dann sind sie deswegen nur mehr in einem beliebigen und in alles mögliche übertragbaren Sinn Bedingungen für poetische Erkenntnis.
Paul Wührs Poesie bezeichnet Czernin sowohl als Poesie und als Theorie; sie könnte sich als uneigentliche, übertragene Form des Philosophisch-Theoretischen herausstellen und damit an Erkenntnis scheitern. Alle möglichen Erkenntnisformen stehen gleichermaßen auf dem Spiel und der Kampf zwischen Poesie und Philosophie ist eine Kritik an beiden: „Bei diesem nicht-paradiesischen Stand der Dinge können weder Poesie noch Philosophie sie selbst in jenem umfassenden Sinn sein, den die Poesie andeutet und auszusagen versucht und die Philosophie aussagt und (zumeist, ohne davon zu wissen) anzudeuten verurteilt ist.“ (Czernin)
Und welchen Ort nimmt Czernins Essay in dem an Wührs Poesie und Poetik festgestellten Kampf ein? Er behauptet sich zum einen als jene von Adorno (in seiner „Negativen Dialektik“) aufgestellte Forderung an Erkenntnis: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ Andererseits zieht Czernin insofern, als er im Essay die Poesie (und vielleicht die Kunst ganz allgemein) nicht wie Adorno als nur anderes der Erkenntnis betrachtet, eine doch wieder umfassende Schleife, in der Adornos Utopie und Czernins „paradiesischer Zustand“ sich decken könnten.