#Roman

Die Ahnungslosen

Wolfgang Popp

// Rezension von Alexander Kluy

„Es gilt, einen Glücksfall anzuzeigen: Ein Erzählwerk, das, seinen Gehalt an Transzendenz sparsam dosierend und doch stetig zwischen den Zeilen mit sich führend, ein Maximum an erlebter oder erlebbarer konkreter Welt sowohl einfängt als auch aufbaut; an Gegenwart und Vergangenheit und Sage, Bildhaftem, Fassbarem, ja, Anfassbarem.“ Worte und Sätze aus dem März 1980. So setzte damals Wolfgang Hildesheimers Rezension des Romans „Commedia“ von Gerold Späth im Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ein. (Damals saß Hildesheimer gerade selber am Manuskript eines seiner erfolgreichsten Bücher, an „Marbot“, dem fiktiv-fiktionalen Porträtroman, glaubte er doch noch an Macht und Wirksamkeit der erzählenden Literatur.)

Es gilt – Hildesheimer paraphrasierend –, fast vierzig Jahre später einen Glücksfall anzuzeigen: den neuen Roman Wolfgang Popps. Im Frühjahr 1980 war der gebürtige Wiener zehn Jahre alt. Unwahrscheinlich, dass er den mehr als 230 Figuren umfassenden Großroman des Erzählers aus Rapperswil seinerzeit las oder überhaupt wahrnahm. Die Erzählstruktur seines neuen Romans Die Ahnungslosen, zahlreiche auf- und abtretende Protagonisten aus zahlreichen unterschiedlichen Leben, Gegenleben und Andersleben, die sich begegnen und verfehlen und miteinander reden, ist überaus ähnlich.

Kaleidoskopisch treten in zahllosen, unterschiedlich langen, in Ausnahmefällen auch einmal sehr kurzen Kapiteln ebenso zahllose dramatis personae auf. Da gibt es einen Musiker namens Raul, der nach zehn eher erfolglosen Jahren in Kalifornien und in Oregon wieder zurückgekehrt ist in die Stadt, aus der er einst aufbrach. Schnell findet er eine Anstellung als Verkäufer in einer Papeterie. Lesend verfolgt man über mehrere Wochen hinweg, wie er sich von einem ersten sehr gut aufgenommenen Gig bis ins Musikstudio spielt. Walt, der Bruder der Papierladeninhaberin Kri, ist Künstler, der seinerseits eine Affäre hat mit der verheirateten Dio. Deren Mann Florian besitzt ein Autogeschäft. Und kommt durch den Filmausstatter Tim, der einst um ein Haar mit Raul nach Amerika aufgebrochen wäre, aber dann doch zu ängstlich war, in Kontakt mit einem Filmregisseur, der ihn als betrogenen Ehegatten besetzt. Was er wiederum Tage lang derart ausdauernd, angelehnt an Robert DeNiro als Travis Bickle in Martin Scorseses „Taxi Driver“, als „method actor“ durchexerziert, dass seine Belegschaft fast den Aufstand probt. Dann gibt es Martha, eine Zugehfrau, Haushälterin und Köchin, die, da aus Osteuropa stammend, ein sacht antiquiertes Deutsch spricht, aber einen derart klaren Blick besitzt, dass sie geheime Amouren sofort detektiert. Und auch ansonsten Weises von sich gibt. Dazu eine Galeristin namens Lara, liiert mit dem Ex-Mann von Kri, die Walts Zeichnungen eigentlich nicht auszustellen bereit ist, weil sie ihre Freundin Dio mit ihm überraschend – und unbemerkt – in einem Museum sah; und dann doch seine Arbeiten zeigt und mit überwältigendem Erfolg verkauft, so dass Walt zum shooting star der Szene wird. Und da ist Susanne, die zu ihrer fast hundertjährigen Großmutter nach Kambodscha reist, dort von einem Insekt gestochen wird und eine schwere Infektion nach Wochen im Spital übersteht. Ihr Freund Tim (der Filmausstatter) reist ihr stante pede nach und ist sehr bald sehr fasziniert vom bewegten Leben der Großmutter Klarissa, die 50 Jahre zuvor ihren Mann, einen in Asien hochpopulären Autor von Spannungs-, Schund- und Groschenromanen, durch einen Autounfall verlor und sich ein neues, eigenständiges Leben aufbaute. Hier kommt etwas ins Roman-Spiel, was bereits die früheren Bücher des studierten Sinologen, zeitweiligen Reiseleiters und heutigen Radiokulturredakteurs Popp auszeichnete: die Lust an der Fremde, am Reisen, am Entdecken.

Sind sie alle die Ahnungslosen? Sind es allesamt normale, also leicht neurotische Großstädter auf der Suche nach Sinn, nach Glück, zumindest nach einer Erfüllung, die länger anhält als eine Stunde, einen Tag, einen Geschlechtsakt, somit nach einem Halt, obwohl es für kaum eine der Poppschen Figuren so etwas zu geben scheint? Erzählt er vom merkwürdigen Verhalten geschlechtsreifer Metropolenbewohnter zur Paarungszeit? Transzendenz zwischen den Zeilen, Popmusik, ein Maximum an erlebter oder erlebbarer konkreter Welt eingefangen und aufgebaut, all das gibt es hier. Dazu Gegenwart und Vergangenheit und Sage, Bildhaftes, Fassbares und Anfassbares inklusive kurios-krauser Fußnotenexkurse, beispielsweise zum Haar in der nordischen Mythologie. Liebe und Eifersucht, Leben und Tiefe, Spiel mit dem Abgrund und Versinken in psychischen Untiefen, zudem versteckt für alle zukünftigen akademischen Popp-Hermeneutiker Sensualismus, Wahrnehmungskonzeptionen, das Widerspiel von Leib und Seele und eine Musikalisierung der Sinne zwischen Spätaufklärung und Romantik, all das bietet Wolfgang Popp.

„Das Schema der Reihenfolge, als willkürlich getarnt, bringt in Wirklichkeit Querverbindungen ins Spiel und damit zusätzliche Akzente, Indizien von außen also. So entsteht Gemeinschaft. Denn es sollte kein globaler Querschnitt erfasst werden, sondern eine Kleinstadt“, beschrieb Hildesheimer seinerzeit das dramaturgisch-narrative Prinzip Gerold Späths.
Popps Roman Die Ahnungslosen nun, nicht über eine Kleinstadt, sondern ein epischer Reigen der Großstadt, ist ein manchmal metaphorisch gewagt ausbrechendes, ausgepichtes, lustvoll artistisches Spiel mit dem Erzählen an sich. Viele Romane en miniature finden sich hier, Betrachtungen über das Zeichnen, eine Szene mit einem privaten Autokino oder haargenau Realistisches über das Lügen in Paarbeziehungen. Romane in Pillenform sind es, wie das der Italiener Giorgio Manganelli 1979 in seinem Buch „Irrläufe“ (im Original „Centuria“) nannte. Sein Buch, lautete einst die Empfehlung des wagemutig-avancierten Formensprengers Manganelli dazu, sei zu lesen, indem man einen Wolkenkratzer besteige, der ebenso viele Stockwerke habe wie sein Buch Zeilen; dann stürze man sich hinunter, und im Fallen trage ein eigens auf jeder Etage postierter Vorleser dem Leser des Buches das entsprechende Textstück vor. Zum Glück, wohl auch aus juridisch-medizinischer Prophylaxe, verzichtete die Edition Atelier darauf, ihren Lesern diesen abenteuerlichen Ratschlag mit auf den Weg zu geben.

Wolfgang Popp Die Ahnungslosen
Roman.
Wien: Edition Atelier, 2018.
280 S.; geb.
ISBN 978­3­903005­41­9.

Rezension vom 12.09.2018

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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