#Sachbuch

Die Entstehungsgeschichte des "Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil

Walter Fanta

// Rezension von Regina Schaunig

Vieler Augen sind im Moment auf die Publikation und Analyse eines dichterischen Nachlasses gerichtet, der zugleich Sonderfall, Sorgenkind und Günstling literaturwissenschaftlicher Anteilnahme geworden ist: die Arbeits-Mappen des 1942 in Genf verstorbenen Schriftstellers Robert Musil.

Bereits seit 1992 sind die rund 12000 Seiten umfassenden Notizen und Entwürfe, die in der Mehrzahl die Konzeption und Fortführung des unabgeschlossen gebliebenen Romans Der Mann ohne Eigenschaften betreffen, transkribiert und in einer CD-ROM-Edition von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé verfügbar gemacht. Um Studierenden und Lesern zusätzliche Brücken zur besseren Nutzung dieses umfangreichen Quellenmaterials zu bauen, wird die CD-ROM-Edition derzeit am Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt unter der Leitung von Klaus Amann und Walter Fanta im Hinblick auf eine künftige Veröffentlichung im Internet nochmals überarbeitet und mit einem Kommentar ausgestattet. Dieser womöglich bald schon auf Knopfdruck für jedermann verfügbar gemachte schöpferische Hintergrund eines der großen Autoren des 20. Jahrhunderts lässt ein neues Zeitalter des Erlebens von Literatur auf der Grundlage historisch-kritischer Landkarten entstehen.

Zum Jahreswechsel 2000/2001 erschien aus der Feder Walter Fantas, eines der Projektmitarbeiter der CD-ROM-Edition, die erste vollständige Analyse des „Morallaboratoriums“ der Entstehungsgeschichte des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, ein 550 Seiten starkes Buch, im Böhlau Verlag Wien. Die in zehnjähriger Forschung erzielten Ergebnisse will Fanta noch in zwei weiteren Teilen veröffentlichen, und zwar in einer Dokumentation der vieldiskutierten Schlusslösungen für den Roman mit dem Titel „Das apokryphe Finale“, und in einer Abhandlung zum „Schreibprozess“ des Dichters.

Fantas Beitrag befruchtet das Feld einer längst schweigsamer gewordenen Forschung, indem er die ein halbes Jahrhundert lang entbehrte Sicherheit historisch-genetischer Grundlagen nützt, um Musils „Geheimakte“ wissenschaftlich verfügbar zu machen. Mit Gewinn adaptiert er Begriffe der strukturalen Semantik von Greimas und leitet ein tatsächliches Überschaubar- und Transparentwerden des komplexen Manuskriptberges ein. Die sich an Wilhelm Bausinger anschließenden Untersuchungen Fantas lassen erkennen, welche Impulse und geistigen Strukturen in Musils unverwechselbarer schöpferischer Methode wirksam waren; sie legen das Gerüst für zahlreiche noch ausstehende Einzelanalysen frei, regen an und stellen in erfrischend griffiger Sprache die bisher entweder reduzierenden oder romantischen Vorstellungen über die mögliche Fortsetzung des „Mann ohne Eigenschaften“ auf den Boden überprüfbarer Zusammenhänge, ohne dass das Moment der Erlebbarkeit von Literatur dabei Einbußen erleidet. Als „Musilianer“ empfindet man einfach Dankbarkeit, dass diese notwendige Arbeit endlich geschrieben wurde.

Unter Heranziehung bibelwissenschaftlicher Begriffe, die die Feierlichkeit des Aktes der Offenlegung „apokrypher“ Konzeptionen Musils unterstreichen, schafft Fanta eine Vielzahl struktureller Differenzierungen, die dem Grund- und Aufriss der Textgeschichte zu Grunde gelegt werden und Schicht für Schicht vertikale und horizontale (Bausinger) Gliederungen des Materials ermöglichen. Höhepunkte der beeindruckenden Präsentation sämtlicher erhaltener Vorarbeiten zum Roman bilden hier wohl die Rekonstruktion der Textstufen „Der Spion“ und „Die Zwillingsschwester“ aus den Jahren 1918-1926 und die subtile textgeschichtliche Erschließung der determinierenden Ideen und Bemühungen Musils in seinen letzten Lebensjahren. Als Basishypothese zum nunmehr wissenschaftlich umzäunten Gebiet des „Mann ohne Eigenschaften“ formuliert Fanta ein jahrzehntelanges Hinausschieben von Romansubstanz als im psychoanalytischen Sinn Bedeutendem seitens des Dichters bei gleichzeitigem Festhalten an alten Plänen und Motiven. Eine Reihe von Graphiken, Tabellen und Zusammenstellungen geben dem Leser klare Übersichten über Handlungslinien, Figuren, Siglen und chronologische Verbindungen, wodurch Fantas Buch zu einem Nachschlagewerk avanciert.

Die Arbeit dieses im Moment in der Nachlassforschung wohl belesensten Musil-Exegeten strahlt auf angenehme Weise wissenschaftliche Gelassenheit aus und vermittelt den Eindruck, nicht unter der Not gebotener Kürze, Schnelligkeit oder Kuriosität gelitten zu haben. So sieht Fanta den Roman auch nicht von einer „großen Teleologie“ beherrscht und beabsichtigt ihn gleicher Maßen nicht als „geschlossenes Erkenntnisgebäude“ nachzuzeichnen, sondern versucht lediglich „die Ausbreitung und Neu-Zusammenlegung eines reich bedruckten und vielgefalteten Stoffes vor dem Leser“ (S. 32).

Die Edition und Analyse seines literarischen Nachlasses war für Robert Musil zeitlebens mehr Schreckensbild als Wunschvorstellung, befürchtete er doch die Zurschaustellung und Zerstückelung seines dichterischen Privatlebens – „ästhetische Prosektur“ – bei gleichzeitigem „Wertnachlass“ für die von ihm autorisierten Texte. Generationen überforderter Leser verlangten jedoch immer schon danach, mehr von (und über) Musil zu erfahren, sodass neben dem Kanon seines publizierten Schreibens Person und Biographie längst unverzichtbarer Gegenstand wissenschaftlicher Recherchen geworden sind und gemeinsam mit philosophischen und psychologischen Untersuchungen willkommene Beiträge zur Gesamtschau eines Werkes liefern können, das in einem Jahrhundert des Auseinanderdriftens immer neuer Fragestellungen den Versuch unternahm, Antworten zu geben.

Walter Fanta Die Enstehungsgeschichte des „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil
Wien, Köln, Weimar: böhlau, 2000 (= Literatur in der Geschichte / Geschichte in der Literatur. In Verbindung mit Claudio Magris herausgegeben von Friedbert Aspetsberger, Bd. 49).
560 S.; brosch.
ISBN 3-205-99282-2.

Rezension vom 28.11.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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