#Roman

Die Erweiterung

Robert Menasse

// Rezension von Judith Leister

Haben Sie schon einmal von „Skanderbeg“ gehört? (Nein, das ist keine neue Wikinger-Serie auf Netflix!) Skanderbeg ist ein albanischer Nationalheld, der eigentlich Fürst Georg Kastriota hieß und im 15. Jahrhundert das christliche Abendland vor den osmanischen Eroberern rettete, wofür ihm Papst Calixtus III. den schönen Ehrentitel „Athleta Christi“ verlieh. Skanderbeg wurde in der europäischen Kunst posthum als Retter der Christenheit verherrlicht; am bekanntesten dürfte Vivaldis gleichnamige Oper sein.

In Robert Menasses Roman Die Erweiterung setzt ein Skanderbeg zugeschriebener Helm im Weltmuseum in der Wiener Hofburg, ein eigentümliches kugelförmiges Ding mit christlicher Inschrift und aufgesetztem Ziegenbock-Kopf, im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung ein großes Verwirrspiel in Gang.

Diesen Helm, der in Wien gemeinsam mit dem Schwert Skanderbegs ausgestellt wird, gibt es wirklich. Beide werden übrigens seit Langem von Albanien, das eine gewisse Frequenz an Reiterstauen des größten albanischen Helden besitzt, zurückgefordert. In Menasses Roman nun soll sich der albanische Ministerpräsident, dessen Land seit 2009 auf die Aufnahme in die Europäische Union wartet, eine auf ihn zugeschnittene Kopie des Skanderbeg-Helms anfertigen lassen, um nach einem Beitritts-Veto Frankreichs Druck auf die EU zu machen. Denn der Helm könne die Albaner, die nicht nur in Albanien und dem Kosovo, sondern auch in Nordmazedonien, Montenegro, Serbien sowie Griechenland leben, quasi unter sich vereinen, sagen seine Berater. „Hatte die EU ein Symbol ihrer Einheit?“, heißt es: „Nein. Aber die Albaner hatten eines, diesen Helm.“

Die Erweiterung ist der zweite Teil einer geplanten EU-Trilogie von Robert Menasse, jedoch als eigener Roman angelegt. Der erste Teil, „Die Hauptstadt“, spielte in Brüssel – und in Auschwitz, das ein findiger EU-Beamter zum 50. Jubiläum der Gründung der EU-Kommission zum Mittelpunkt der Feierlichkeiten auserkoren hatte, damit dem Gedanken des „Nie wieder!“ folgend. 2017 hat der Autor für diesen Roman den Deutschen Buchpreis bekommen. Während „Die Hauptstadt“ die Brüsseler Institutionen in den Fokus nahm, geht es im Nachfolgewerk um die EU-Osterweiterung, über die bekanntlich auf jährlichen Westbalkankonferenzen verhandelt wird. Dies ist auch im Fall Albaniens mit diplomatischen Verwicklungen zwischen Brüssel und dem Kandidatenland verbunden.

Menasses Fiktion kommt den Fakten oft ziemlich nah. Das erwähnte Veto Frankreichs gegen den Beitritt Albaniens, das bald darauf zurückgezogen wurde, zum Beispiel, gab es wirklich. Auch das fiktive politische Personal sieht dem echten zum Verwechseln ähnlich. Menasses deftig fluchendes albanisches Staatsoberhaupt, von seiner Entourage einfach „Chef“ genannt, trägt Züge des amtierenden Ministerpräsidenten Edi Rama – eines ehemaligen Basketballers und Künstlers, der alle Jahre wieder wegen seines Wahlversprechens gewählt wird, Albanien in die EU zu führen, was dem Wunsch von 90 Prozent der albanischen Bevölkerung entspricht.

Wie schon in Menasses Vorgänger-Buch sind seine Helden Bürokraten. Etwa ein Dutzend Hauptfiguren mitsamt ihren Lebensgeschichten sind als Regierungssprecher, Spindoctor, Polizeichef, Ministerpräsident, Beamter in der Generaldirektion für Erweiterung und so weiter im Spiel – und mindestens ebenso viele Nebenfiguren treten auf. Sich angesichts der vielen Personen im Roman zurechtzufinden, ist deshalb nicht ganz einfach. Die Story um Skanderbegs Helm ist der einzige Handlungsstrang, der konsequent das gesamte Buch durchzieht. Alles andere sind komische oder tragische Ab- und Ausschweifungen, die im gelungenen Fall vor Fabulierlust strotzen, und sich im weniger gelungenen lesen wie literarisch schwach angereichertes essayistisches Material.

Im Zentrum des Ganzen steht die Erzählung um den EU-Kommissionsbeamten Adam, der noch eine Rechnung mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz offen hat. Beide gehörten einst als Blutsbrüder der „Solidarnosc“ an. Doch Mateusz hat aus Sicht seines ehemaligen Gefährten Adam schweren Verrat an den gemeinsamen Zielen begangen, weil er Polen zu einem reaktionären Land machen will. Den Juden Adam erbittert besonders, dass Mateusz rhetorisch den Antisemitismus befeuert: „Polen waren grundsätzlich unschuldig. Deutsche und Juden wollten dem polnischen Volk die Schuld am Holocaust anhängen, aber Juden seien Mittäter gewesen. Der Satz von den ‚jüdischen Mittätern‘, das politische Spiel mit Antisemitismus, war für Adam ein Skandal.“

Polen und Albanien, warum hat Robert Menasse ausgerechnet diese beiden Länder für seinen Roman ausgewählt? Dazu Menasse in einem Gespräch: „Albanien ist mit all seinen Wahnsinnigkeiten und Widersprüchlichkeiten ein interessantes Exempel. Das Land implementiert systematisch die Justizreform als Bedingung für den Beitritt. Und umgekehrt gibt es Länder, die sind Mitglied und brechen systematisch europäisches Recht, wie Ungarn oder Polen.“

Das Finale des Romans versammelt die europäischen Regierungschefs anlässlich einer inoffiziellen Balkan-Vorkonferenz auf dem Kreuzfahrtschiff „Skanderbeg“. Eingeladen hat der albanische Ministerpräsident. Auch Adam und Mateusz treffen dort aufeinander. Doch eine Seuche bricht aus und die Europäer dürfen nirgendwo mehr anlanden. Die Reise endet zwar nicht an einem Eisberg, aber der riesige Luxuskreuzer wird zum Geisterfahrer auf den Ozeanen. Mit Käpt’ns Dinner und Champagner in den Untergang? Ein pessimistisches Bild für die Zukunft Europas.

Robert Menasse Die Erweiterung
Roman.
Berlin: Suhrkamp, 2022.
653 S.; geb.
ISBN 9783518430804.

Rezension vom 19.12.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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