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Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte

Ulli Lust

// Rezension von Johanna Lenhart

„Wir befinden uns im Jahr 2025. Die gesamte Weltgeschichte ist ein Beweis für die Überlegenheit des Mannes… Die gesamte? Nein! Ein paar kleine Figurinen in den Museumsvitrinen hören nicht auf, die Legende von der natürlichen Dominanz des Mannes zu widerlegen.“ (S. 15) Eine Enklave des Widerstands in Form von Frauenstatuetten aus der Steinzeit, der Ulli Lust in ihrem eindrucksvollen Sachcomic Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte nachgeht. Und bald stellt sich heraus: Die ‚natürliche Überlegenheit‘ des Mannes wie sie seit ‚Menschengedenken‘ unter anderem mit Verweis auf frühe Kulturen propagiert wurde, ist so nicht haltbar. Wer hätte das gedacht.

„[A]llgemein Menschliches aus weiblicher Perspektive zu verhandeln“ (S. 9), ist das Ziel von Ulli Lust in Die Frau als Mensch. Ein etwas mühsames Unterfangen, wie sie gleich nachsetzt, ist doch zum Beispiel das Deutsche nicht darauf ausgelegt, schließlich gibt es den Menschen nur im generischen Maskulinum. ‚Die Mensch‘ gibt es nicht. Frauen sind – wenn man Glück hat – mitgemeint. Auf dem niederösterreichischen Land wurde man, wie Lust am Beginn des Bands aus eigener Erfahrung berichtet, noch in den 1970er-Jahren gefragt: „BIST DU A BUI ODA A MENSCH?” (S. 8) Für Frauen und Mädchen fehlte das Wort, man wich auf das generalisierende „Mensch“ aus.

Frauen waren und sind mancherorts keine Kategorie für sich. Eine Marginalisierung, die Lust nicht nur in der Sprache und im Alltag festmacht, wo weibliche Geschlechtsorgane wortwörtlich mit „Scham“ behaftet sind, sondern auch in der Kunst, die den weiblichen Körper als etwas zu Versteckendes, zu Bedeckendes präsentiert. Während Männer als das Außergewöhnliche dargestellt werden und „seit der Antike die ideale Nacktheit“ (S. 14) repräsentieren, verrenken sich unter den Frauen sogar Göttinnen um ihre „Scham“ zu verbergen. Mit einer einprägsamen Gegenüberstellung setzt Lust gleich im ersten Kapitel den Ton: Sie erzählt von einem Besuch im British Museum, wo eine Ausstellung eine Kopie der kauernden Aphrodite von Doidalses (um 250 v. Chr.) zeigt: Die Statue der Göttin ist kniend dargestellt, ihr Geschlecht und ihre Brüste mit den Händen verbergenden, während die vier nackten Männerfiguren um sie herum aufrecht, selbstbewusst und ohne Scham, dastehen. Lusts Alter Ego geht durch die Ausstellung und wundert sich.

Persönliche Perspektiven sind oft ein Ausgangspunkt in Ulli Lusts Schaffen. Bereits in Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (avant, 2009) mit dem sie international Aufsehen erregte, oder in Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein (Suhrkamp, 2017) sind autobiografische Erfahrungen Stoff und Anlass, sich einem Thema zu widmen, immer aus dezidiert feministischer Perspektive. Auch dokumentarische Herangehensweisen setzt Lust, die seit langem zu den renommiertesten Comicautor:innen im deutschsprachigen Raum zählt, immer wieder ein, wie etwa in der Comicreportage Wer bleibt (2005) über eine Plattenbausiedlung in Dessau oder der 2016-2018 im Magazin Exberliner monatlich erschienene Comicstrip The Stroll, in dem Lust Alltagsszenen dokumentiert. Die Frau als Mensch vereint nun diese Ansätze und begibt sich auf eine Reise zu den Anfängen der Menschheit.

Und am Beginn der Menschheit ist alles etwas anders, als es uns das populäre Bild der Steinzeit weismachen will. Am aktuellen Stand der Forschung orientiert, wovon ausführliche Quellenangaben und Literaturverweise zeugen, widmet sich Lust der Repräsentation von Frauen in Funden und Artefakten der Urgeschichte des Menschen und was daraus über soziale Dynamiken und (Geschlechter-)Rollen geschlossen werden kann. Was ihr dabei auffällt: Die weiblichen Figurinen, die im eingangs erwähnten Museum die Erzählung von der Dominanz des Mannes seit der Urgeschichte ins Wanken bringen, sind kein Einzelfall. Aus über 30.000 Jahren sind keine ähnlich ikonischen männlichen Figuren erhalten, denn: „im Bilderschatz der Eiszeit repräsentiert die Frau die Kategorie Mensch“ (S. 16).

Eine relativ neue Schlussfolgerung, sah man in modernen populären und wissenschaftlichen Darstellungen der Steinzeit bisher doch meist Männer beim „Kämpfen, Jagen, Hämmern, Malen, Schnitzen, Musizieren, beim Denken und Erfinden.“ (S. 20) Ein Bild, das auf Fehlinterpretationen basiert. Beispielsweise wurden viele Skelette aufgrund ihrer stark ausgeprägten Schulterpartien für Überreste männlicher Jäger gehalten, nach modernen DNA-Analysen entpuppten sie sich aber als weibliche Skelette – Jägerinnen offenbar. Der Schluss: Wahrscheinlicher als die Dominanz des Mannes in allen Bereichen ist, dass Steinzeitmenschen Universalist:innen waren. Jede:r musste jederzeit für alles einsetzbar sein. Die vornehmlich männlichen Forscher hatten in die Funde sich selbst hineingelesen, sich ihre eigene kulturelle Vorannahme, das ‚stärkere‘ Geschlecht zu sein, bestätigt und so moderne Geschlechterklischees und -hierarchien auf die sozialen Zusammenhänge der Steinzeit übertragen.

Einmal etabliert, dass das populäre Bild der Steinzeit eine Überarbeitung verdient, untersucht Lust verschiedenen Mythen, die sich um die männliche Überlegenheit und das Sozialverhalten der Menschen in der Steinzeit ranken. Wie durchdacht die Herangehensweise Lusts ist, lässt sich besonders in den beiden Kapiteln „Töchter und Söhne der ersten Menschen“ und „Heute ist alles anders“ erkennen. Hier begibt sie sich auf Spurensuche zu den Khoisan, die im südlichen Afrika beheimatet sind und laut genetischen Untersuchungen die älteste noch existierende Menschengruppe sind, wodurch sie „vielen Wissenschaftler*innen als Modell für das Zusammenleben der Urgesellschaften“ (S. 59) dienen.

Interessant ist nicht nur deren weitgehend gewaltloses Zusammenleben, das dem Bild vom brutalen Steinzeitmann widerspricht, sondern auch die Art und Weise, wie Lust bemüht ist, den Khoisan eine Stimme zu geben. Sie versucht, die Kontrolle über die Erzählung den Khoisan selbst zu überlassen und lässt die Passage von einem Jäger, !Ngate Xqamxebe, erzählen, indem sie dessen Erklärungen aus einem Dokumentarfilm übernimmt. Gleichzeitig ist sie sich der Limitation dieses Versuchs bewusst und problematisiert sowohl die eigene als auch die Perspektive des Dokumentarfilms, indem sie im letzten Panel des Kapitels einen Schritt zurück macht, aus der Szene herauszoomt und auch den weißen Kameramann, der die Szene filmt, zeigt. Unmittelbar wird klar: Wir haben es auch hier mit einer Perspektive von außen zu tun, die auf ökonomischen und kolonialistischen Hierarchien fußt und die Khoisan zum Untersuchungsobjekt macht. Im anschließenden Kapitel öffnet Lust dann auch, wie schon in ihrem autobiografisch verankerten Blick in die 1970er-Jahre, die Perspektive in die Gegenwart und erzählt von der Vertreibung der Khoisan aus ihren Gebieten. Heute findet man dort die zweitgrößte Diamantenmine der Welt und (Großwildjagd-)Tourismus.

Ulli Lust legt mit Die Frau als Mensch keinen einfachen Sachcomic vor, der Geschichte nur bebildert, sondern einen Band, der etablierte Annahmen herausfordert und dabei den Bedingungen der Wissensproduktion selbst auf überzeugende Weise mit Skepsis begegnet. Von der Marginalisierung der Frau und der Tabuisierung weiblicher Erfahrungen durch männliche Geschichtsschreibung und Forschung, über das Verhältnis der frühen Menschen zur Natur, bis zu Fragen wie Mensch und Natur heute von Ausbeutung und Ausgrenzung betroffen sind, überlegt Lust fachlich fundiert, wie es in der Steinzeit tatsächlich gewesen sein könnte.

Lust macht so nicht nur neueste Erkenntnisse über frühe Menschen greifbar, sondern zeigt, dass Geschichte immer eine Form der Interpretation ist – ein Umstand, der in populärwissenschaftlichen Werken gerne vergessen wird. Mit abwechslungsreichem Paneling und effektvoller Kolorierung lenkt sie die Blicke der Leser:innen, macht auf Details von Figurinen, Skeletten und Fundstätten aufmerksam und lässt dabei auch die künstlerische Imagination nicht zu kurz kommen – besonders schön sind die großflächigen Zeichnungen steinzeitlicher Landschaften.

Geschickt zwischen zeitlichen Ebenen wechselnd, drängt sich die Gegenwart sowie Lusts eigene Perspektive als Erzählerin immer wieder in die Narrative über die Urzeitmenschen und hinterfragt damit nicht nur die Darstellung von Geschichte und die Entstehung von historischen Narrativen sondern auch, was wir daraus für die Gegenwart ableiten. Der bereits angekündigte zweite Band – Die Frau als Mensch in der Eiszeit – soll direkt anschließen und verspricht ähnlich aufschlussreich zu werden.

 

Johanna Lenhart, Studium der Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien. 2017-2022 OeAD-Lektorin an der Ain-Shams-Universität Kairo, Ägypten, und an der Masaryk-Universität Brno, Tschechische Republik; 2022-2024 externe Lektorin an der Masaryk-Universität; seit 2023 beim Ars Electronica Festival im Projektmanagement im Bereich Demokratiebildung tätig; Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik. Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. österreichische Literatur der Gegenwart, Comic sowie Genreliteratur und -film.

Ulli Lust Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte
Berlin: Reprodukt, 2025.
256 Seiten, farbig, Hardcover
ISBN 978 -3-9564-0445-0.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor

Homepage von Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 15 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 15

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 16 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 16

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 17 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 17

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 18 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 18

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 19 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 19

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 20 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 20

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 21 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 21

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 22 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 22

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 23 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 23

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 24 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 24

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 25 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 25

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 26 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 26

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 27 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 27

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 28 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 28

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 29 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 29

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 30 © Ulli Lust

Ulli Lust Die Frau als Mensch, S. 30

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Rezension vom 06.03.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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