Das Umschlagbild Verlorene Mitte (Wolfgang Mattheuer) wirkt wie eine Art Programm: Es ist „der dünner werdende Faden der Literatur“ (S. 32), gleichsam die „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas), die die Autoren „auch bei den Büchern“ konstatieren (S. 35).
Die zeitliche Abgrenzung des vorliegenden Bandes orientiert sich an der politischen Geschichte Deutschlands von der Protestbewegung 1968 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1989/90. In einer kurzen Einführung listen die Autoren die Eckdaten der sozialpolitischen Entwicklung dieses Zeitraums auf, wobei der Blick naturgemäß auf Deutschland konzentriert bleibt. (Zumindest indirekt über den Hinweis auf den Ingeborg Bachmann-Preises findet Österreich Erwähnung.) Einen vergleichsweise breiten Raum nimmt auf diesen 20 einführenden Seiten Umberto Ecos Roman Im Namen der Rose ein, der unter dem Titel „Postmoderne“ auf zwei Seiten ausführlich vorgestellt wird.
Wenn in einem literaturgeschichtlichen Abriß dieser Konzeption 50 Werke bzw. Autoren auf jeweils zwei bis knapp dreißig (dieser umfangreichste Ausnahmefall betrifft Uwe Johnsons Jahrestage), durchschnittlich auf etwa acht Seiten, vorgestellt werden, ist ein genauerer Blick auf die Auswahl – trotz des Verdachts der Beckmesserei – zulässig.
Am auffälligsten vielleicht die Grobstruktur des Bandes, die eine – dem Untersuchungszeitraum nicht angemessene – Konservativität des Literaturbegriffs verrät. Etwa drei Viertel des Buches nimmt „Die erzählende Dichtung“ ein, die letzten knapp 100 Seiten teilen sich „Die dramatische Dichtung“ und „Die lyrische Dichtung“, andere Formen, Gattungen und Aspekte sind nicht vorgesehen. Drama und Lyrik sind auch, sowohl was die Länge bzw. Kürze der einzelnen Beispiele wie ihre Auswahl betrifft, vielleicht am fragwürdigsten. Weshalb von sieben vorgestellten Stücken jeweils zwei von Franz Xaver Kroetz und Thomas Bernhard, alle vier noch dazu aus den frühen siebziger Jahren, stammen (die restlichen drei sind von Tankred Dorst, Botho Strauß und Heiner Müller), anstatt hier vielleicht Wolfgang Bauer, Elfriede Jelinek oder Peter Turrini einzubeziehen, scheint nicht ganz einleuchtend. Ebenso unverständlich, daß dramenmäßig die Epoche 1968 bis 1990 für die Autoren offenbar mit Heiner Müllers Hamletmaschine im Jahr 1979 endet. Auch beim Abschnitt Lyrik sind Peter Huchel oder Erich Fried jeweils in zwei verschiedenen Unterkapiteln vertreten, wodurch letztlich nur dreizehn Lyriker vorgestellt werden.
Positiv zu vermerken ist hingegen ein eigenes Kapitel zum Thema „Weibliche Existenz und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern“ – ein Aspekt, der selbst in jüngsten Literaturgeschichten noch nicht immer als Selbstverständlichkeit Aufnahme findet. Vertreten sind hier Romane von Christa Wolf, Günter Grass, Irmtraud Morgner, Brigitte Kronauer und Ingeborg Bachmanns Malina, wobei gerade bei diesem Roman, der das Kapitel eröffnet, das Fehlen von Verweisen auf den Entstehungs- bzw. (verspäteten) Rezeptionskontext zu bedauern ist. Umfangreich geraten ist der Abschnitt zu „Postmoderne Schreibweisen?“ mit ausführlichen Darstellungen zu Romanen von Christoph Ransmayr, Patrick Süskind, Wolfgang Hildesheimer, Hans Magnus Enzensberger und Botho Strauß. Die „Erzählte(n) Panoramen“, die den Prosaabschnitt eröffnen, stammen von Uwe Johnson, zweimal Heinrich Böll, Martin Walser, Walter Kempowski und Jurek Becher (die Titel sind relativ leicht zu erraten). Die „Autobiographische(n) Revisionen“ versammeln Beiträge zu Peter Härtling, Elisabeth Plessen, Peter Handke und Thomas Bernhard, die erzählende Literatur der DDR wird vertreten von Günter de Bruyn, Christa Wolf,Ulrich Plenzdorf, Reiner Kunze, Volker Braun, Hans Joachim Schädlich und Christoph Hein.
Der Anhang liefert ein kurzes Glossar mit literaturwissenschaftlichen Fachbegriffen, eine etwas eigenartige, 11 Titel umfassende Liste „Bibliographische Hinweise“ von jenen Primärwerken, „aus denen mit Angabe von Seitenzahlen“ (S. 372) zitiert wurde und ein mitunter ebenfalls verblüffendes Personenregister, das alle namentlich erwähnten Personen (von Neil Amstrong über Aristoteles und Arthur Conan Doyle zu Gustav Heinemann, Richard Milhous Nixon und Franz Josef Strauß) mit kurzen Lebendaten versammelt und manche Kuriosität zu bieten hat wie die „Dramaturgen“ Ingeborg Bachmann, August Strindberg und Peter Handke, den „Mediziner“ Paul Celan oder den „Theater- und Literaturkritiker“ Thomas Bernhard.
Trotz dieser Ungenauigkeiten überzeugt die Qualität des Bandes als Orientierungshilfe und Informationslieferant für Lehrer, Schüler und alle, die Erinnerungen an nur mehr schemenhaft erinnerte Lektüren deutscher „Klassiker“ der Gegenwart auffrischen wollen.