#Prosa

Die Gemochten

Lydia Mischkulnig

// Rezension von Alexander Peer

Ein zentrales Motiv in Lydia Mischkulnigs neuem Erzählband Die Gemochten ist der menschliche Körper: von der erotischen Projektion, wie sie in der titelgebenden Geschichte dargestellt ist, über das Surrogat des Körpers in Form des Robbenroboters PARO im fast als Reportage zu wertenden „Uncanny Valley“ bis zur Deformation im Text „Am Ufer des Nahrungsstroms“.

Letztgenannte Erzählung verstört mit der Gegenüberstellung von Flüchtlingen, die in Hungerstreik treten und Gänsen, die gemästet werden, um als kulinarisches Luxusprodukt ihren Platz in der zivilisatorischen Irrenanstalt einzunehmen.

Literatur in Literatur

Als verbindender Faden lässt sich ferner die Literatur erkennen. Nicht nur, dass uns Schreibende begegnen, es finden sich auch etliche intertextuelle Anspielungen. Bachmanns „Drei Wege zum See“ mit der Protagonistin Elisabeth Matrei etwa wird gekonnt in „Das wahrhaftige Drehbuch“ paraphrasiert. In „Nora schreibt“ berichtet die Erzählstimme reduziert, fast teilnahmslos über die Trennung des Körpers von seiner Umgebung. Dann blitzt der Satz auf, „Gedichte lassen den Körper und seine Seele zusammendenken, ohne ihn zu zerstören.“ Das literarische Schreiben als Fluchtpunkt, wenn die Gewissheit wächst, dass nirgendwo ein Puppenheim wartet. Schließlich gipfelt der intertextuelle Reigen in der finalen Erzählung. Ungestraft darf man das Adjektiv „kafkaesk“ im Prinzip nicht verwenden. Außer es leistet eine präzise Information. Mischkulnig lässt Kafkas Rotpeter aus dem „Bericht für eine Akademie“ diesmal ans Pult treten, um den Lebensberatern die kulturellen Leviten zu lesen. Eine Gesellschaft voller Experten beweist offensichtlich ihren hohen Grad an Verworfenheit.
Schließlich flattert in „Die Umzüglerin“ eine Krähe durch den Traum der Protagonistin und schon kann der konditionierte Rezensent den Gedanken an E.A. Poe und seinen aufdringlichen Raben kaum von sich weisen.

Eine Collage zur kulturellen Zumutung

Die aus Kärnten stammende Autorin betreibt die intertextuelle Referenz so weit, dass sie in ihrem eigenen Erzählband eine vielsagende Wiederholung einbaut. „Die quantenphysikalische Behauptung, dass der Beobachter bereits das zu Beobachtende so verändert durch seine Beobachtung, dass er nie wissen wird, was das Beobachtete ist“, findet sich sowohl auf Seite 42 als auch auf Seite 164. Dann zwingt einen der Text durch die Anmerkung „ich habe ihn (Anm. den Satz) schon einmal gelesen und nun für mich kopiert“, die Erzählung als Teil einer Wirklichkeit zu betrachten, die sich auf eine Fiktion bezieht. Diese Einladung zum philosophischen Kunststück macht das Lesen zum Genuss. Die Form der Erzählung bietet die Chance, essayistisch gerahmte Szenen zu gestalten. So dienen diese Geschichten als Material, Fragen zu stellen, um brennende gesellschaftliche Anliegen sichtbarer zu machen. Ob es um das Verhältnis der Geschlechter geht, etwa in der Erzählung „Die Parzelle“, die einen Bogen spannt von Menstruationsfragen bis zur traurigen Epoche der Hexenverfolgung im 16. Jahrhundert, oder um die Abgründe des Ichs in einer neoliberalen, überfordernden Selbstoptimierungsära wie in „Outing“, oft sticht die Autorin in die Glutnester, die für ein dauerndes Glosen unter der Oberfläche mühsam zur Schau gestellter Selbstzufriedenheit sorgen. Dass die Kriege in den Körpern nachwirken, ist eine wiederkehrende Begleiterscheinung. Auf Seite 106 heißt es: „Der Pulli ist für das Kind. Sollte es aus seinem Irrgarten der Identitäten nicht hinausfinden, kann es den Pulli auftrennen und an seinem Faden aus dem Irrgarten hinausfinden.“ Im konkreten Kontext geht es um Sexarbeiterinnen und den Willen, das Objekt voyeuristischer Betrachtung hinter sich zu lassen und zum Subjekt zu werden.

Die Antiquiertheit des Menschen

Doch das Bild des Ariadnefadens gilt für alle diese zweifelnden und verzweifelnden Personen in Mischkulnigs Potpourri. Sie alle versuchen, einem Minotaurus zu entkommen. Sie sind in ihren schicken, urbanen Lebenswelten zweifelsfrei prädestiniert fürs Unglück. Es liegt auch an ihrer Gabe zur Wahrnehmung. Denn diese erst nährt die Ambivalenzen. „Man kann die Staublunge bezeichnen und den Lungeninfarkt der verstorbenen Gattin erinnern, während man eine Reisstrohmatte betrachtet, ohne den Vorgang dieser Assoziationskette zu kapieren“, steht auf Seite 141. Ein Satz, der die assoziativen Rittberger anschaulich vermittelt. Meist sind es sogar doppelte Rittberger. Man muss schon genau lesen, um dieser Akrobatik mental gewachsen zu sein. Doch liegt nicht gerade darin die Lust des Erzählens?
Selbst wenn wir bei Mischkulnig bereits wissen, dass in jeder Paradiesmaschine eine Neurosenkuss-Maschine steckt, dann betrachten wir die prometheische Scham – um es mit Günther Anders zu sagen – gelassener und können bei unserem Untergang wenigstens lachen.

Lydia Mischkulnig Die Gemochten
Erzählungen.
Graz, Wien: Leykam, 2022.
176 S.; geb.
ISBN 978-3-7011-8252-7.

Rezension vom 08.09.2022

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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