Bettina Balàka, die sowohl für ihr lyrisches Schaffen als auch für ihre Romane schon mehrfach ausgezeichnete Autorin, vereint in ihrem neuen Buch mit dem fröhlich stimmenden Cover in Farben des Sommers Gedichte der letzten Jahre mit lyrischer Kurzprosa. Auf die Prosaminiaturen entfallen dabei die letzten 35 Seiten. Die Gedichte überraschen von allem Anfang an mit solch einer Vielfalt und Originalität, dass es schwierig wird, sie thematisch und formal-sprachlich zu unterteilen. Die Texte sind in Abschnitte mit alles andere als abgenutzten Ein-Wort-Titeln zusammengefasst (Fahrenheit, Candela, Phon), sie lassen sich aber auch nach anderen Maßstäben in Gruppen einteilen, je nach thematischem Schwerpunkt oder Verortung in einem Setting.
Der selbstoptimierte Mensch, der elende Literaturkonsument
Die erste Textsammlung, Pferdestärke, beeindruckt durch die Originalität der behandelten Fragen. Oft sind es Anspielungen auf psychologische oder soziologische Phänomene, wie beispielsweise die Sehnsucht nach Liebe und die Ergänzung durch einen anderen. Es sind nachdenklich machende Bilder und Symbole: „Wale schnappen / schwarze Spinnen wuchern auf Wangen / blaue Blumen schwanken im verborgenen Gehölz“ (S. 13); nicht selten machen sie Angst. Ebenso finden sich hier Anspielungen auf klassische Reise- und Abenteuerromane, meist erkennbar an Zitaten und festen Wendungen: „und fuhr in achtzig Tagen um die Welt […] und in das Herz der Finsternis hinein“ (S. 11).
Das Lesen und sein Einfluss auf den Menschen sind wiederholt Thema der Überlegungen dieser manchmal auch poetologischen Gedichte. Es geht dabei etwa um Zähmung der Sprache, die ohne den Eingriff des Dichters, der Dichterin wieder in ihre wilde Form zurückkehren würde. Einige Gedichte widmen sich wiederum dem Thema Zerfall der Natur und des Lebensraums des Menschen, wodurch sie – ob absichtlich oder nicht – sehr aktuell wirken. So wird an einer Stelle recht drastisch das Sterben der Fische in Haufen von Plastikmüll geschildert. Ein anderer Text illustriert die soziale Kälte durch die reale Winterkälte, wenn es sehr konkret um jemandes buchstäbliche Obdachlosigkeit geht. Postapokalyptische Szenen finden sich besonders in einer verlassenen Küsten- und Meereslandschaft mit einem dahinwandelnden Liebespaar; dieser Szene werden Menschenschlangen in einer ausweglosen Dürre gegenübergestellt. Das Besondere daran ist, dass, je weiter man liest, immer neue, ungewöhnliche Bilder auftauchen, immer neue, rätselhafte bis surreale Szenerien sich öffnen. Die Natur scheint einerseits Heilung zu bringen, andererseits vermag sie genau das nicht, trotz ihres rasanten Aufblühens, da der Mensch, ob in der Natur oder nicht, immer auf sich selbst zurückgeworfen ist.
Ein weiteres, mehrmals wiederkehrendes Motiv der Gedichte ist Weihnachten, die seltsame Zeit der aneinandergereihten stillen Feiertage. Es steht meist für das Vergehen der Zeit, für das Bewusstmachen des Alterns, sowohl des eigenen als auch jenes der nahestehenden Menschen. An einer Stelle (Das Christkind bringt) findet die Autorin zu einem völlig unsentimentalen, lakonischen und von jeder Naturmystik befreiten, witzig-kritischen Ton zur Schilderung des im Jahresverlauf so wichtigen Festes.
Auf den ganzen Band bezogen, fällt auf, dass Tiere und Tiermotive sehr häufig auftauchen. Dabei kann es sich um Verwandlungen des Menschen zu Tier oder Pflanze handeln – oder auch zu übernatürlichen Wesen („ich war eine Fee und der Ursprung eines Geysirs“, „wurde ich zum Fisch / und schwamm in der großen Traumglocke“ S. 33) –, oder aber es wird der Blick auf die nüchtern-schaurige Szene einer maschinellen Tierschlachtung eröffnet. In einem weiteren Gedicht, in dem das Ende der gewohnten Welt heraufbeschworen wird, sind es die Pflanzen und Tiere, die sprechen können und dem Menschen sagen, wo es langgeht. Auch der nächtliche Wald oder eine nächtliche Seelandschaft sind als Schauplatz in diesem Band öfter anzutreffen. Hier sind es die Nachttiere, die an den Tod erinnern.
„Die glücklichen Kinder der Gegenwart“ sind in einigen Gedichten aus der Sammlung Candela anzutreffen. In diesen Texten trifft man auf skurrile Charaktere, Paradebeispiele eitler, beliebter oder erfolgreicher Menschen oder solche, die sich in einer vollkommenen Vergeistigung verlieren. Balàka spart nicht mit Kritik an Leser:innen bzw. „Literaturvampyren“, die sich alle Erlebnisse und alle Gefühle aus den Büchern holen; auch Künstler:innen oder Bohemiens werden nicht ohne Witz lächerlich gemacht, vor allem deren Hang zur Bildung von Gruppen. Auch energiegeladene, äußerst lebenstüchtige Frauen, die alles schaffen, bekommen ihr Fett ab. Noch mehr nimmt die Autorin die Zeitgenoss:innen auf die Schippe, die „ihre Besitztümer weggeben und / stattdessen von Erlebnissen leben“ wollen oder sich in der Selbstoptimierung verlieren.
Die Prosatexte des Bandes, die merkwürdigerweise unter keinem Titel zusammengefasst sind, sind poetische Miniaturen erster Klasse. An diesen mal kürzeren, mal längeren Texten erkennt man Balàkas untrügliches Gefühl für Schilderungen von Orten und Zeiträumen. Insbesondere merkt man dies am längsten Text, Der Berg Batur, einer detailreichen Beschreibung einer Indonesienreise. Unzählige Eindrücke von Menschen, ihrer Kleidung und Tänzen, den buddhistischen Tempeln, den exotischen und von Einheimischen vielfach gefangengehaltenen Tieren, von Landschaften und Teichen mit Seerosen lassen an Balàkas frühere Erzählungen, etwa Auf offenem Meer von 2010, denken. Mit nicht geringer poetischer Spitzfindigkeit versteht sie es auch, ihre Heimatstadt Salzburg wiederzugeben: „man kann die Häuser zusammenwürfeln in einem großen Tuch und wieder um die Plätze gruppieren“, alles „fügt sich immer schön zwischen Mönchs- und Kapuzinerberg ein“ (S. 139). Da die Eindrücke von Salzburg ebenso am Christtag notiert worden sind, spannt sich hier möglicherweise der Bogen zu manchen Gedichten des Bandes. Das Psychogramm einer von Zwangsvorstellungen und Verfolgungswahn geplagten Hausfrau – Abweichungen von Shakespeare –ist ein erschreckendes Gegenbeispiel zu den in den Gedichten zwar belächelten, aber nicht ernsthaft tragischen glücklichen Kindern der Gegenwart.
Balàkas neuer Band ist ein treffendes Beispiel äußerst aktueller Poesie, die stets mit einem Augenzwinkern auf Themen aufmerksam macht, die uns nachdenklich machen.
Jelena Dabić, geb. 1978 in Sarajevo, studierte Germanistik und Russistik in Innsbruck und Wien. Übersetzerin aus dem Serbischen, Kroatischen und Bosnischen, Literaturkritikerin und Sprachlehrerin. Zuletzt erschienen in ihrer Übersetzung: 24 von Marija Pavlović (Roman, Drava, Klagenfurt 2021), Die schwindende Stadt von Pavle Goranović (Gedichte, edition korrespondenzen, Wien 2019) und Grüne Nacht in Babylon von Sofija Živković (Gedichte, Edition Aramo, Wien 2018). Teilnahme am 23. Poesiefestival Berlin (Juni 2022). Mitarbeit an den Anthologien Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas. Hg. von Federico Italiano und Jan Wagner (Hanser 2019) und VERSschmuggel. Poesie aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro […] (Das Wunderhorn, Heidelberg 2023). Rezensentin beim Portal poesiegalerie. https://www.poesiegalerie.at/wordpress/