Ein regnerischer Freitagabend in Wien. Ulrich, Ingenieur für Verbrennungsmotoren, hat soeben von seiner bevorstehenden Kündigung erfahren. Seine Frau weilt gerade zur Kur, und um seine Zukunftsängste zu verdrängen, beschließt er kurzfristig, die Einladung eines alten Schulfreundes zu dessen 50. Geburtstag anzunehmen. Doch Werner Kohout, der fast vergessene und obendrein nicht allzu enge Freund aus Jugendtagen, der es offenbar zu Geld und gesellschaftlichem Ansehen gebracht hat, scheint bei seinem eigenen Fest gar nicht selbst anwesend zu sein.
Statt ihm begegnet Ulrich unter den zahlreichen Gästen der immer ausschweifenderen Party unter anderem einem ominösen Herrn Knolloch, dessen Andeutungen Ulrich entnimmt, dass der Hausherr ihm offenbar eine verlockende berufliche Stellung in seinem Unternehmen anbieten wolle. Außerdem trifft er auf die attraktive Rosanna, mit der er schon einmal vor langer Zeit in Kroatien eine Liebesaffäre gehabt zu haben glaubt, und hofft, diese nun wieder aufnehmen zu können. Von seinen sich vermeintlich überraschenderweise abzeichnenden neuen Möglichkeiten wie geblendet gerät Ulrich immer tiefer in den Sog der anwesenden Reichen und Schönen, zieht mit ihnen tief in der Nacht weiter in eine Hotelbar, später in eine riesige abgelegene Villa und verfällt den sich in immer groteskeren Episoden manifestierenden äußeren und inneren Abgründen einer durch und durch verkommenen Gesellschaft.
Als habe sich der Autor, Jahrgang 1944, selbst in seinen Roman hineingeschrieben, sitzt zu Beginn ein alter Mann im Lift des herrschaftlichen, aber schon etwas baufälligen Hauses, in welchem der Geburtstag Werner Kohouts begangen werden soll, und warnt den Protagonisten Ulrich vor dem möglichen Einsturz:
„Ich wohne einen Stock tiefer und höre alles. Immer nur feiern … Immer nur tanzen, trinken und tanzen … Das kann nicht gutgehen … Ich wünsche Ihnen ein schönes Fest. Aber springen Sie nicht zu viel. Und horchen Sie auf die Geräusche! … Verstehen Sie! Immer auf die Geräusche hören!“ (S.12)
Der ältere Herr erscheint als Mahner vor einem Spektakel, welches als Allegorie auf den Hedonismus einer spätkapitalistischen Spaßgesellschaft aufgefasst werden kann. Denn beileibe geht es nicht nur, wie auf dem Rücktitel angekündigt, um den „routinierte[n] Exzess der höchsten Kreise der Stadt“. In Wahrheit ist es das Verhalten eines Großteils der Bevölkerung, das Ernst mit seiner Groteske Die Glückseligen geißelt.
Ein übersteigertes Dazugehören-Wollen der Beteiligten zur In-Group ist von Anfang an spürbar, findet jedoch vor allem im dritten Teil des Romans seinen Ausdruck, wenn lange Schlangen von ungeduldigen Partygästen um Einlass in die Villa anstehen, in die sich das Fest verlagert hat. Die anfangs schon fast unüberschaubare Anzahl von Feierwilligen scheint sich nochmals frappant erhöht zu haben, etliche kauern etwa im leeren Swimmingpool und versuchen, die aus den Fenstern geworfenen Häppchen vom Buffet zu erhaschen, um irgendwie des vermeintlichen Glanzes der Veranstaltung teilhaftig zu werden, und ein Teilnehmer entwickelt sogar „eine Technik […], in Windeseile an Gästen hochzuklettern, um die von oben heruntergeworfenen Speisen im Anflug zu erwischen, noch bevor sie andere […] ergreifen konnten, um […] die Speisen gegen Gegenstände einzutauschen oder […] zu verkaufen“ (S. 250).
Nicht nur eine allgemeine Kapitalismuskritik wird hier spürbar, sondern das Ganze ist auch eine allegorische Beschreibung der Spätfolgen jenes „Wir amüsieren uns zu Tode“, welches der US-amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman einst konstatierte. Denn in Wahrheit ist die Situation innerhalb der Villa nicht so ungetrübt rosig, wie es sich die außen vor Gelassenen ausmalen mögen: inzwischen sind so viele Menschen im Haus, dass „die Belastungsgrenzen der Zwischengeschoßdecken schon längst erreicht“ sind (S. 193) – auch hier findet sich das erwähnte Motiv der Einsturzgefahr wieder – und wer nicht schon einen Platz nahe am Buffet ergattert hat, ist aufgrund des Gedränges kaum in der Lage, sich einen zu verschaffen.
Immer abstrusere Gesprächsthemen, immer exzessivere und auch nicht ausschließlich freiwillige sexuelle Handlungen gipfeln schließlich in zahlreichen Anwandlungen von nackter Gewalt, in welche auch Ulrich verwickelt wird, dem es durch die Hilfe des bereits im Hause befindlichen Knolloch gelingt, zusammen mit Rosanna , hineinzukommen. Als ob ein Gedränge und Geschiebe in einem ressourcenreichen, jedoch völlig von Gier, Missgunst und Wollust zerfressenen, abgeschlossenen eigenen Universum stattfände, welches sinnbildlich für die Zerstörungen unseres Planeten steht, agieren alle Beteiligten schließlich wie unter Drogen gesetzt.
Das ist gleichermaßen erschreckend wie packend geschildert. Der opulente Stil Gustav Ernsts, der sich gerne jeder Menge Neben- und Schachtelsätze und ausschmückender Adjektive bedient, trägt nicht wenig zu jenem Faszinosum der gesellschaftlichen Apokalypse bei, das man bei der Lektüre verspürt. Doch auch die Nebenhandlung, die sich um Ulrichs Midlifekrise und seine erotischen Träume in Bezug auf Rosanna dreht, liest sich trotz (oder sogar gerade wegen) teilweise recht drastischer Beschreibungen als einfühlsam gezeichnetes Psychogramm eines gewöhnlichen mitteleuropäischen Mannes in der zweiten Lebenshälfte.
Obendrein verbinden sich diese beiden Sujets der Romanhandlung plausibel, da sie zeitgleich ablaufen und die charakterlichen Schwächen des Protagonisten sich in denen des übrigen Romanpersonals spiegeln, welches ihm auf seiner Party-Odyssee begegnet: eine fatale Mischung aus einem Sich-treiben-Lassen und einem jederzeit in den krassesten Opportunismus umschlagendes Verhalten, ein implizites Selbstmitleid und eine ausgeprägte Aggressivität, wo sie erfolgversprechend erscheint.
Gustav Ernst gelingt mit Die Glückseligen ein Stück Literatur, das sich in der Rigorosität seiner Aussage bei gleichzeitig hohem Unterhaltungsfaktor wohltuend vom zeitgenössischen Betroffenheits-Duktus über den Zustand unserer Welt abhebt und sich nicht mit Nebenschauplätzen aufhält: Es geht um die alles überstrahlende Verteilungsfrage, um die Zerstörung von Lebensgrundlagen, aber eben auch um die persönliche Verantwortung dafür und jene Form von ehrlicher Selbstreflexion, die notwendig ist, um sich vor der weltweit grassierenden wie auch der jeweils eigenen Hybris zu bewahren.
Ulrich fehlt dieses introspektive Moment bis zum Ende des Romans, er träumt weiterhin davon, ein Teil jener vermeintlich erstrebenswerten Gesellschaft zu werden. Obwohl dieser Umstand eine wirklich tiefgehende Identifikation des Lesepublikums mit der Hauptfigur verhindert, wird es kaum umhin können, wie gebannt auf den sich stetig steigernden Strudel des Irrsinns zu schauen, den Gustav Ernst in Die Glückseligen literarisch vor ihm ausbreitet.
Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.