Da gibt es: eine griechische Zypriotin, die EU-Beamtin Fenia Xenopoulou, die ihre Beförderung zur Leiterin der Direktion C (Kommunikation) in der Generaldirektion für Kultur als Karrierestillstand, ja geradezu als Rückschritt einstuft und ihren Geliebten, einen Deutschen mit dem sprechenden Namen Kai-Uwe Frigge, von ihr nur „Fridsch“ genannt, Kabinettschef in der Generaldirektion für Handel und somit der einflussreichste Büroleiter eines der mächtigsten Kommissariate der Europäischen Union, einspannt, um eine andere hohe Stelle zu ergattern; ihren Referenten Martin Susman, einen Österreicher, dessen Bruder Schweinezüchter ist und Vorsitzender des Europäischen Verbandes der Schweinebauern, auf Englisch abgekürzt EPP; einen emeritierten österreichischen Volkswirtschaftsprofessor namens Alois Erhart, aufgewachsen in Wien-Mariahilf, der in eine in Brüssel tagende „Reflection Group“ berufen wurde, die ein Konsulentenpapier inklusive Visionen für ein neues Europa erarbeiten soll; den pensionierten belgischen Lehrer David de Vriend, der gerade in ein Pensionistenheim übersiedelt ist, das gegenüber einem Friedhof liegt, und der geplagt wird von seinem Überleben: Als Junge ist er, der Jude, aus einem von Widerstandskämpfern kurz angehaltenen Deportationszug gesprungen, trotz der Einwände seiner übrigen Familie, die im Zug verharrte und bei der Ankunft in Auschwitz sofort umgebracht wurde; Mateusz, eigentlich Ryszard Oswiecki, Pole, einstiger Priestereleve und nun Vollstrecker im Dienste des Vatikans, der als Attentäter eingesetzt wird und gerade im Brüsseler Hotel Atlas (in welchem auch Erhart abgestiegen ist) den Falschen ermordete; und den Polizeikommissar Émile Brunfaut, sehr groß, korpulent, seelisch angeschlagen ob umfangreicher medizinischer Untersuchungen, Anhänger des Fußballclubs RSC Anderlecht und Enkel eines berühmten belgischen Résistance-Kämpfers. Brunfaut beginnt im Atlas-Mordfall zu ermitteln, bevor das Ganze auf Weisung von oben gestoppt wird und buchstäblich jede Evidenz, ob analog oder digital, verschwindet, wogegen er sich sträubt und unter der Hand einen Polizistenfreund und Computerexperten einspannt, der herausfindet, dass die Spur ins NATO-Hauptquartier und in den Vatikan führt … Und dann ist da noch ein Schwein. Ein echtes Hausschwein, das gleich zu Beginn durch Brüssel trabt, immer panischer, und nochmals am Ende auftaucht.
Dieser Roman ist so klug wie elegant konstruiert. Die Eleganz zeigt das Auftaktkapitel, in dem der Galopp des Schweins durch Brüssel die geistreiche Introduktion aller wichtigen Protagonisten und Charaktere ist. Die Klugheit zeigen die folgenden, mit keineswegs zu ignorierenden mehrsprachigen Motti versehenen Teile.
Wie vermessen aber ist es, ein Buch über die Europäische Kommission zu schreiben?! Keine politische Analyse, kein Sachbuch, keine Philippika, die Robert Menasses Veröffentlichung von 2012 „Der Europäische Landbote“ war, sondern: ein erzählerisches Werk. Ebenfalls alles andere als zufällig sind die Anspielungen auf Robert Musils Epopöe „Der Mann ohne Eigenschaften“.
Analyse und Liebesroman, augenzwinkernder Agenten- und Konspirationsschmöker und tiefgehendes Psychogramm – all dies ist Menasse ganz leichthändig geglückt mit seinem Roman, der jüngst mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichnet wurde. Es gibt eminente Dialogpassagen, in denen Realismus schwerelos mit Ironie zusammengeht, als sei dies das Allerleichteste. Auch wenn es um Schweres geht.
Das Schwere ist ein Projekt, das Xenopoulou für sich als Karriere-Katapult entdeckt – das 50-jährige Bestehen der Europäischen Kommission. Eine große, würdig inszenierte Feier jenseits von Sonntagsreden und winziger Semi-Öffentlichkeit, das würde sie wieder ins Rampenlicht rücken, sie aufrücken lassen auf eine ihr angemessene Position. Referent Susman hat nach einem Besuch des KZ Auschwitz eine zündende Idee, an die er anfangs selber gar nicht glaubt, aber sie dennoch zu Papier bringt, um einen Arbeitsnachweis zu erbringen: Wenn die Europäische Kommission einstmals entstand als Gegenentwurf zu Nationalismus, Rassismus und Völkerhass, wieso dann nicht Auschwitz, und zwar den einstigen Gründungs-Impetus „Nie wieder Auschwitz!“ ins Zentrum rücken, Überlebende der Schoa einladen und so ein Signal für ein tatsächlich transnationales Europa setzen.
Zeitgleich hat auch Erhart, dessen Eltern weit über 1945 hinaus hartleibige Nazis waren, diese Idee, die er in dem erschütternd ideenlosen Kreis der Konsultationskonferenz präsentiert. Er geht sogar noch einen Schritt weiter – und fordert den Neubau einer europäischen Hauptstadt in Auschwitz! Damit ist seine Rolle in dem Beratergremium, dessen Visionen altbekannte, ausdauernd wie erfolglos erprobte sind, vorbei.
So ernst und ernst gemeint Susmans Idee ist, so schnell gerät sie unter die Räder der gut geschmierten Intrigen, der hochrangigen Strippenzieher und der nationalen Regierungen. Am Ende zerstiebt sie zu Nichts. Und jeder, der sich davon distanzieren kann, tut es möglichst lautlos.
Es ist auch ein Schlüsselroman, der ein bisher für Epik unerschlossenes Areal namens „Brüssel“ ausleuchtet, auf hochintelligente wie amüsante Art, auch mit mehr als nur einer Prise politischem Sendungsbewusstsein seitens Menasses.
Vielleicht ist dies das beste, das intellektuell wie kompositorisch gelungenste Buch des Wieners, der sich vier Jahre lang eine Wohnung in Brüssel zu Recherchezwecken gemietet hatte, um vor Ort mit hochrangigen Beamten, Mit- und Zuarbeitern zu sprechen und um das Lokalkolorit aufzusaugen. Letzteres merkt man ausführlich an Hand von Wegbeschreibungen. Zum Schluss gelingt ihm noch ein leichtes, dabei hochexplosives Finale in der U-Bahn.
Ein Gran störend ist im letzten Fünftel lediglich eine zu lang geratene Passage, in der der politische Befund seines „Europäischen Landboten“, ein vorbehaltloses Plädoyer für ein transnationales Europa, mit missionarischem Furor verbreitet wird. Und etwas merkwürdig mutet ebenfalls an, dass das Tiroler Dorf, in dem Erhart schon als junger Wissenschaftler die Gespräche des Europäischen Forums besuchte und einen von ihm bewunderten Professor kennen lernte, durchgehend „Alpach“ geschrieben wird und nicht, wie es richtig wäre, „Alpbach“.