#Roman

Die Heimreise

Vladimir Vertlib

// Rezension von Alexander Kluy

Vladimir Vertlib schickt in seinem Roman Die Heimreise eine junge Frau auf einen eindrücklichen Roadtrip durch die poststalinistische Sowjetunion der 1950er Jahre.

Es ist das Jahr 1956. Lina ist 20 und als Mathematik-Studentin aus Leningrad zum „freiwilligen“ Arbeitsdienst ins ferne Kasachstan entsandt worden. Da erreicht sie ein Telegramm. Ihr Vater sei auf den Tod erkrankt, sie solle so rasch wie möglich zurückkehren. Das macht sie.
Es beginnt eine abenteuerliche Reise durch die Steppe, durch Dörfer, die keine Dörfer sind, sondern irgendwo im Nirgendwo abgeworfene Katen [einfache, kleine Hütten], die sich tief in die Grasnarbe kauern. Wenn ein Zug verkehren soll, dann kommt er garantiert nicht. Lina wird von Dorf zu Dorf, allesamt Ansiedlungen planwirtschaftlicher Sinnlosigkeit, getrieben, bis sie endlich einen Zug erreicht. Dieser fährt aber anderswo hin, weil ein besser an den Zugverkehr angebundener Ort ohne jede Ankündigung zur gesperrten Zone erklärt wurde; einiges deutet darauf hin, dass es dort vielleicht eine unter- oder eine überirdische Atomexplosion gegeben haben muss.

Im zeitweiligen Gefolge einer ebenfalls umgeleiteten Theatercompagnie gelangt sie endlich an einen Fluss, kann dort einen Dampfer besteigen, der sie nach Omsk bringen soll. Als während einer Personenkontrolle eine junge Frau, die sich als Rauschan ausweist, von KGB-Schergen arretiert werden soll, weil ihre Legitimationspapiere nicht ganz koscher zu sein scheinen, hört Lina jemanden lautstark protestieren: „Ein schlechtes Foto? Wegen eines Fotos muss die Bürgerin einen ganzen Tag und eine Nacht auf das nächste Schiff warten? Wirklich? Wozu? Wozu haben wir den Krieg gegen den Faschismus gewonnen, den Personenkult überwunden und sind wir gerade dabei, hier, in dieser Region, die Kornkammer für die ganze Welt zu erschaffen? Wollen wir den Hunger auf der Welt besiegen und gleichzeitig zulassen, dass Menschen willkürlich wegen schlechter Fotos oder anderer Kleinigkeiten schikaniert werden?“ (S. 93) Diese Stimme gehört – ihr. Und von ihrer vehementen Widerrede am meisten überrascht ist – sie selbst.

Urplötzlich kommt es zu einer solidarischen Aktion, Vorwürfe, lange unterdrückt, werden lauthals geäußert, Murren, Beschwerden, Beschimpfungen brechen sich Bahn, eine Art „Tauwetter“ en miniature in der Zeit des großen „Tauwetters“ nach dem Tod Stalins 1953 (und entlehnt vom Titel des Romans Tauwetter von Ilja Ehrenburg, der 1954 erschien). Nach dem siegreichen Tohuwabohu – die drei KGB-Kontrolleure suchen das Weite – bildet sich eine Freundschaft zwischen Rauschan und Lina. Sie haben noch fünfzehn Stunden bis zur Ankunft in Pawlodar und fangen an, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, sie erzählen von sich.

Linas Bericht von einer Mutprobe, in der es darum geht, einem bösen Hund entgegenzutreten, führt umgehend in die Zeit der 900 Tage währenden Leningrader Belagerung im Zweiten Weltkrieg zurück und weiter in die Jahre kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Rauschan, die eigentlich Greta heißt und deren Mutter Deutsche war, erzählt von ihrer Mutter, die, „entkulakisiert“ wurde – „Kulaken“ wurden wohlhabende Bauern genannt –, und die nach der Deportation ihres Mannes mit ihrer Familie in einer „Spezialsiedlung mit besonderem Regime, ein Nicht-KZ mit KZ-Charakter“, in einer abgelegenen Einöde leben musste. Dort gab es rein gar nichts für die nach und nach verhungernden Bewohner:innen. Nur die Obrigkeit des Dorfes hatte zu essen, sogar reichlich, und noch mehr Wodka. Einer der Aufseher zwang sie im Tausch für zwei Säcke Getreide zum Geschlechtsverkehr. Die Familie überlebte – neun Monate später kam Greta zur Welt.

Die schier endlose Reise von Lina und Rauschan geht weiter und weiter. Die beiden begegnen noch einigen Passagieren, die helfen und ihrerseits bewegte Viten vorweisen können. Schließlich trifft Lina in Leningrad ein. Ihre Reise endet am Friedhof. Für die Beisetzung des Vaters kommt sie zu spät.

Dieser Roman ist nicht nur ein Röntgenbild, die diagnostische Darstellung eines despotischen Regimes, es ist eine oft herzzerreißende Geschichte von Unterdrückung, Fremde, Brutalität, Hoffnung, Leben. In einem Interview sagte Vertlib, 1966 in Leningrad zur Welt gekommen, jüngst, er habe eine „Mehrfachidentität“, er sei „Österreicher, Jude, Russe“. Der Bezug „zu Russland ist dabei ein sehr enger, denn Russisch ist meine Muttersprache. Der Bezug ist also vor allem kulturell, sprachlich, literarisch und historisch, weil ich mit dieser Kultur und mit dieser Sprache aufgewachsen bin.“ Mit Die Heimreise legt er das vielleicht erzählerisch überbordendste, mit Sicherheit jedoch das eindringlichste Buch seiner Karriere vor.


Alexander Kluy
ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahllose Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Felix Dörmann – Jazz (Edition Atelier, 2023) und Egon Erwin Kisch – In Hollywood wächst kein Gras (Limbus Verlag, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der Edition Atelier die Bände Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).

 

Vladimir Vertlib Die Heimreise
Roman.
Salzburg: Residenz Verlag, 2024.
352 S., gebunden.
ISBN 978-3-7017-1783-5.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Rezension vom 13.08.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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