#Sachbuch

Die kleinste Größe. Trakl. Kafka. Montaigne

Leopold Federmair

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl

Auch wenn der Titel dieses Bandes auf den ersten Blick an Hans Weigels „Flucht vor der Größe“ erinnern mag, geht es hier keineswegs um das Klischee von der österreichtypischen Affinität zum „Kleinen“ und „Kleintun“. Der Titel entstammt dem einleitenden Essay, der bei den Schriftstellern selbst nachfragt, weshalb ein „verdorbenes Verhältnis zur Welt“ (Mario Vargas Llosa) bei „den großen (schreibenden) Männern der Tatlosigkeit“ (Fernando Pessoa) eine Art sine qua non für den (naiven) Scharfblick ist, der das Allzuvertraute als das Befremdliche erscheinen läßt.

Die drei Autoren, an denen Leopold Federmair, selbst Autor, Übersetzer und Kulturpublizist, das Freudsche Diktum „alle Kunst ist Mangelkunst“ überprüft, sind lebenslänglich auf „ihren Mangel fixiert“ (19) geblieben. Gemeinsam scheint ihnen auch die spezifische Topographie ihrer selbsterschaffenen Umräume: Höhle/Blase (Trakl), Junggesellenbau (Kafka) und Turm (Montaigne). Federmair nähert sich den einzelnen Autoren behutsam und mit sehr viel – auch poetischem – Feingefühl. Unaufdringlich wird hier Trakls letztlich bis zum Tod nicht abgeschlossene Salzburger Kindheit im Zauberbann „der mandelförmigen Stadt zwischen Fluß und Berg“ (32) und den lebensprägenden Traumata von familiärer Kälte und (Inzest)Schuld verknüpft mit der Analyse einer Reihe von poetologischen Standardsettings in seinem Werk: die verhaltenen Erinnerungssignale, das beinahe ausschießlich familiäre Personal, die Allgegenwart des Wassers und der Bewegung des Fallens, Sinkens und Neigens. Diese konzentrisch kreisende Bewegung seiner Gedichte wird verstärkt durch ständiges Kombinieren und Neuanordnen eines relativ schmalen Vokabulars, bei dem das Zaudern zwischen Klang und Sinn spürbar wird und der Eindruck von Wort-Stilleben entsteht. Die Bruchstücke der Sprache „wechseln ihre Bedeutung im Feld des Gedichts“ (41), doch sie bestimmen sich nie restlos, und daraus erwächst die beunruhigende „Unberührbarkeit“ seiner Gedichte.

Franz Kafka ist der längste Beitrag gewidmet, der, wie der einleitende Essay, in diesem Band zum ersten Mal abgedruckt ist. Auf knapp sechzig Seiten verpackt Ferdermair ein dichtes Geflecht an Ideen, Überlegungen und auch Anregungen zur Lektüre des Kafkaschen Werkes. Ihm geht es nicht um die Einzelanalyse von Texten oder Textgruppen, sondern um einen Blick auf das Gesamtwerk, der Grundstrukturen und Tendenzen sichtbar machen kann. Solche Konstanzen wären etwa die Michael Kohlhaassche rechtschaffene Rechthaberei der Figuren, verbunden mit der prägenden Haltung des Zauderns, die sie in allen Entscheidungssituationen, die immer existenzielle Prüfungssituationen sind, vor ausweglose Wahlen stellt: in beiden Richtungen lauert das Scheitern, der Tod. Alle Figuren sind einem ständigen „Verwandlungs/Process“ unterworfen, dem Tierbilder und -vergleiche auch dort eingeschrieben sind, wo sie an der Oberflächenstruktur nicht gleich erkennbar sind. Der hierarchisch gegliederten Architektur entspricht die pyramidale Machtstruktur des Personals: jeweils zwei Figuren bilden die Machtbasis für eine dritte, die ihrerseits, zusammen mit einer Figur der gleichen Hierarchieebene, die Basis für die nächste Pyramide bildet, deren Endpunkt im Schleier der Unerreichbarkeit verschwindet.

Aus dieser Paarstruktur entwickelt Federmair eine interessante Anregung, deren Weiterverfolgung vielversprechend sein könnte. Von Bogdan Bogdanovic stammt der Begriff des „Binoms“: gemeint waren damit Schriftsteller/Architekten-Paare, bei denen sich durch bestimmte Berührungspunkte eine Zusammengehörigkeit ergibt. Federmair stellt einige solche Figuren-Binome – er nennt sie „Diptychen“ (51) – für Kafkas Werk auf, jenseits der offensichtichen Zwillingsfiguren wie den beiden Gehilfen oder den beiden Bällen, die den Junggesellen bedrängen: Der Hungerkünstler und der Affe aus dem „Bericht für eine Akademie“ (verbindendes Element ist der Käfig, der am Anfang bzw. Ende das Leben der Figur bestimmt), die Sängerin Brunelda aus „Amerika“ und „Josefine, die Sängerin“. Diese Binome enthalten in sich die beiden Enden des Bogens möglicher Lebensentwürfe wie bei K., dem Landvermesser und „Künstler-Außenseiter-Betrüger“ und K., dem Bankbeamten und „Arbeits-, Heirats- und Einordnungswilligen“ (S. 64). Daß Kafkas Werk nicht ausdeutbar ist und immer neue Übersetzungen einfordert, faßt Federmair in ein sehr poetisches Abschlußbild: Kafkas Texte verlangen vom Leser die Attitüde eines (Kafkaschen) Zirkusartisten, der sich auf das „Herumturnen auf den Gerüsten“ seiner Welt versteht, denn, Kafkas „Gib’s auf“ ins Positive kippend: „Immer bleibt etwas zu bedenken“ (104).

Der Beitrag zu Montaigne zeichnet den ungewöhnlichen Blick des Philosophen nach, der die Welt, gesehen vom kontemplativen Ort seines Denk-Turm aus, verkehrt erscheinen läßt und in dieser Verkehrtheit das Verständnis für die richtigen Dimensionen schärft. „Das Alberne und das Erhabene“ ist der Titel des letzten Essays. Beide extremen Konzepte scheinen Federmair in der österreichischen Literatur besonders ausgeprägt und traditionsreich, mit den jüngsten Beispielen Franzobel und Raoul Schrott.
Die sprachliche Feinheit und poetische Bildkraft von Federmairs Essays macht schon die Lektüre als solche zu einem Gewinn, die den Leser aber auch mit einer Fülle von Ideen und Anregungen belohnt.

Leopold Federmair Die kleinste Größe. Trakl. Kafka. Montaigne
Interventionen / 3.
Wien: Edition Selene, 2001.
157 S.; brosch.
ISBN 3-85266-168-4.

Rezension vom 18.01.2002

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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