Zwei Aussagen, das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart betreffend, erteilt das Romandebüt Die Kompromisse von Florian Dietmaier (* 1985 in Graz) eine klare Absage, und zwar an einer Stelle, bevor der literarische Text beginnt. Zwei der drei Zitate auf der ersten Seite sind durchgestrichen, das erste stammt von Peter Fabrizius, ein Künstler:innenname, aus dem Werk The Horizontal Society: „We live at a great breaking point of history.“ Auch eine Aussage aus The Go-Between des britischen Schriftstellers L. P. Hartley wird als falsch ausgewiesen: „The past is a foreign country: they do things differently there.“ Abschließend bringt Dietmaier eine österreichische Autorin ins Spiel: Dem Zitat aus Das fünfte Jahr von Marlen Haushofer, „dieses ‚Früher‘ war eine Macht, an die man nicht herankommen konnte“, scheint sich das Buch verbunden zu fühlen. Somit steht die Vorstellung einer mächtigen Vergangenheit am Beginn eines Romans, der einem Protagonisten folgt, dessen Leben von der Suche nach einem goldenen Mittelweg geprägt war.
Die Kompromisse handelt von dem mit viel Leidenschaft erfüllten Diplomaten Peter, der rückblickend und teilweise entlang seiner Tagebuchnotizen seine eigenen Erlebnisse reflektiert. Wobei ‚die eigenen‘ ist eigentlich zu eng gefasst, denn Weltpolitik und Privates sind kaum zu trennen. Der Diplomatenpass erlaubt ihm eine gute Übersicht über das Weltgeschehen, führt jedoch auch zu einer Art Engführung der Wahrnehmung. Peter gerät selten direkt in Berührung mit politischen Ereignissen, geschweige denn mit unmittelbaren Akteur:innen oder Betroffenen, gleich welcher Art, sondern erlebt und kommentiert diese von außen. Auf dem Terrain der Diplomatie kann man der Ich-Figur nicht viel vormachen, ein Lachen eines Staatspräsidenten weiß er entweder als Scherz oder als Angeberei zu interpretieren. Auch auf die Kunst, Verständnis zu suggerieren und die Ruhe zu bewahren, versteht er sich.
Apartheidpolitik in Südafrika, rechtefreie Stadt in Hongkong
Die durchwegs klare und schlichte Sprache erlaubt es dem schmalen Roman, einen breiten zeitlichen Bogen zu spannen, der seinen Anfang im Jahr 1960 nimmt und bis ins Jahr 2020 reicht. Damit erhält jedes Kapitel eine zeitliche Verortung, die in diesem auf spezifische historische Ereignisse fokussierenden Roman unumgänglich ist. Den Streifzügen Peters kann der/die Leser:in sich gleichsam ihrem chronologischen Verlauf folgend nähern oder auch die einzelnen Kapitel als eine Art Eingang zu einer Geschichte verstehen. Bemerkenswert ist, dass Dietmaier den mehr oder minder bekannten europäischen Kontinent bzw. die im weiteren Sinn ‚westliche Welt‘ verlässt und sich in aus mitteleuropäischer Sicht unbekannte Gefilde begibt. Das Kapitel Sibbolet – 1971 widmet sich etwa der Geschichte des ‚Bantu Homelands Constitution Act‘, welcher den Bantustan genannten Homelands der indigenen Bevölkerung in Teilen Südafrikas eine Art Scheinunabhängigkeit gewährte. An einer anderen Stelle finden sich Ausführungen über die einst rechtefreie, dicht besiedelte Kowloon City im Herzen Hongkongs, die noch in den 1980er und 1990er Jahren existierte.
Reduktion und Recherchen
Wenngleich der Roman auf eine Vielzahl von historischen Themen und Kontexten setzt und teilweise philosophisch-gesellschaftspolitische Überlegungen zulässt, zeichnet ihn in gleichem Maße auch die Reduktion aus. Die wichtigsten Eckdaten des Lebens seiner Ehefrau Jane, Geburt, Studium, Hochzeit, Geburt des Sohns, Arbeit und Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft etwa beschreibt der Ich-Erzähler auf einigen wenigen Seiten. Gewohnt, Situationen und Entwicklungen von außen zu bewerten und sich einen Eindruck zu verschaffen, agiert die Ich-Figur auch im Privatleben als Vater und Ehemann distanziert. Auch komplexe politische Entwicklungen werden oft nur skizziert und anhand einiger Schwerpunkte beschrieben. Diese Vorgehensweise lädt zur Möglichkeit eigener Recherchen und Überlegungen ein, verhindert gleichzeitig eine ansonsten kaum vermeidbare Langatmigkeit des Buchs.
Neben den fundiert recherchierten Streifzügen durch die Weltpolitik greift das Debüt immer wieder Reflexionen über das Spannungsfeld von Nationalstaaten und trans- bzw. postnationale Entwicklungen auf. Die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt Peter dabei nicht los. So heißt es nach der Lektüre eines Werks von Sophokles: „Es war ein beliebtes Gedankenspiel, zu überlegen, ob man die Vergangenheit verändern würde, um die Zukunft zu verbessern, könnte man in der Zeit zurückreisen. […] Was hätte ich verändert, welche meiner Entscheidungen würden andere verändern wollen?“ (S. 95)
Dankenswerterweise handelt Die Kompromisse grundsätzliche Fragen, das Leben und die Weltpolitik betreffend, über weite Strecken in großer Nüchternheit ab, etwa wenn es heißt: „Auch Schmerz und Trauer sind ein Geben und Nehmen wie alles hier. Ob es das wert ist? Ich sollte mir diese Frage beantworten können, schließlich habe ich ein langes Leben gelebt. Ich habe keine Antworten.“ (S. 103)
Wie nebenbei stellt das schmale Romandebüt die Frage in den Raum, welche Facetten das eigene Lebens abseits vom Streben nach persönlichem Glück bieten kann. Und eröffnet damit einen weiten Horizont.
Ursula Ebel, geb. 1986 in Lilienfeld/NÖ, ist Literaturvermittlerin und Literaturwissenschaftlerin; studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Gender Studies an der Universität Wien, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Université Paris Diderot. Seit 2011 Mitarbeiterin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, seit 2014 dort stellvertretende Geschäftsführerin. Zuletzt Projektmitarbeiterin des Instituts für Germanistik der Universität Wien unter der Leitung von Günther Stocker: ‚Die Internationalisierung Wiens im Feld der Literatur am Beispiel der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 1960–1989/90‘ (2020–2022). Schreibt als Rezensentin u. a. für Die Presse, Buchkultur und www.literaturhaus-wien.at.