Stella hatte zunächst sämtliche gutbürgerlichen Erwartungen enttäuscht („ein Sich-über-Wasser-Halten in der Stadt als Putzfrau, Kellnerin, Sekretärin, ein Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben, ein Sich-nichts-Zutrauen“), schlussendlich aber dann doch noch zur „Orgelwelt“ gefunden, die auch die Welt ihres Vaters, eines Professors am Institut für Orgel, gewesen war. Untergekommen in der Werkstatt Finns, bereits die Väter kannten einander; als Stella in den „längst sohngeführten Betrieb“ eintrat, war sie Finns Vater, der gleich darauf wie erleichtert verschied, „die Himmelsgeschickte„.
Das innere Chaos der Spätberufenen, ihr Wunsch, ihre stillgelegte Erotik wiederzubeleben, findet Bändigung in der strengen und komplizierten, sich über Wochen hinziehenden Arbeit an der Restaurierung der Orgeln, die ohne Überforderung der Leser mit bedeutender Sachkenntnis beschrieben wird. Zusätzlich ist diese Konstellation aus experimentierend suchendem, auszüngelndem Begehren und Gegenhalt in der disziplinierten Arbeit und ihrem Regelmaß durch den Tod des Vaters, der sich wider Erwarten in einem alle Nervenkraft beanspruchenden Auf und Ab über Monate erstreckt, einer eminenten Belastungsprobe ausgesetzt. Stella wird zur verantwortungsvollen Sterbebegleiterin ihres Vaters, der als ein „großer Junge, der nicht abschließen will“, erscheint. Sein „oberster Leibesgrundsatz“ war immer gewesen: „Auf ärztlichen Beistand verzichte man längstmöglich.“
Jetzt aber geht es nicht mehr auf die gewohnte Art: „Sein Leid hängt sich bei mir ein, und ich schleppe es mit.“ Noch immer will er trotz letaler Prognose in stärkeren Momenten an eine „magische Wendung“ glauben und wehrt sich gegen die pharmakologische Ruhigstellung, verstreut trotzig die Pillen im Zimmer. In anderen Phasen regt sich wiederum eine „Restrevolte“ anderer Art, wenn er nicht mehr leben will, doch es ist wie unter einem mythologischen Fluch, wo es in Wahrheit am tüchtig arbeitenden Herzschrittmacher liegt: „Der Wunsch zu sterben wird so lebendig, dass er sich nicht erfüllt.“ Zutreffend deutet die Autorin dies väterliche Nicht-mehr-Wollen als Ausdruck eines „sehr starken letzten Willens“, einer „noluntas“ könnte man mit Schopenhauer anmerken.
Eine Begebenheit von symbolistischer, um nicht zu sagen expressionistischer Prägnanz: als Stella, wie unter Gespenster tretend, im Heimflur erschrickt, „weil ein paar Meter weiter das Gangsofa lebt: Die dort dämmernde Gestalt ist auf dem Möbel einheimisch und bereits mit ihm ident. Augen starren unverwandt heraus. (…) Auf der anderen Seite des Sofas sitzt ein älterer Herr, mit Blick in eine Ferne, die nicht hier stattfindet. Im Vorbeigehen beobachte ich noch, wie sich aus dem Möbel eine Frau formt und sich näher an den Mann schiebt.“
Kindheits-Rückblenden, das Einweihungsfest einer restaurierten Orgel, exakte Wortfindungen, die auch manchmal Regionalismen nicht scheuen: „Wrucken“ (für Kohlrüben), Hirschkäfer, die die Abendspaziererin „im Schwärmanflug“ überfallen, ein Rehbock, der bellt, eine Distel wird nicht „mannshoch“, sondern eine „weibshohe“ genannt, die Landschaft rückt stark ins Bild und gibt dem Roman eine starke atmosphärische Plastizität – wie auch deren Bewohner, wie Finn, wie der Winzer Jerome mit französischem Accent, erotischer Maître de Plaisir, wie die Personnage der Stammrunde, gemieden wie gesucht, um sich von der Todkrankenwacht etwas abzulenken.
Aufsuchen des Vaterhauses: „das Bett dort oben, als sei am Vortag er draus ausgestiegen“, Vaters „Dachsbau: ein Vorratsbunker“, Ankämpfen gegen den Verfall auch hier; während der Vater im Heim liegt, vermeint Stella ihn in seinem leerstehenden Haus durch die dämmrigen Räume schlurfen zu hören. „Das alles bewache ich. Kein Papakind und durchaus nicht sein Augenstern. Vielmehr der Augendorn“, muss sich Stella sagen, aber sie harrt verlässlich auf dem Posten aus, obwohl es noch eine Schwester gäbe: Ricarda.
Durch die Sterbebegleitung kommt Stella aber ihrem zeitlebens eher entfremdet gewesenen Vater nahe, einen sogar guten Geruch scheint er ihr zu haben, es sind Momente, in denen sich der Kreis, den der Tod zerreißen wird, versöhnlich zu schließen scheint.
Nach dem Tod und dem Begräbnis – die Autorin gibt keiner Illusion und keiner Scheinheiligkeit eine Chance – will mit Wucht das Leben sein Recht zurückerobern und so kommt es im letzten Kapitel zu einem ganz furiosen Finale. Postorgiastisches Erwachen bei Pirolgesang „mit der Ahnung guter Tage unter den Fittichen“, so schließt konkret-utopisch das Buch.
Gesamteinschätzung: Ein in jedweder Weise, in der Komposition wie in den Details, in der Figuration und nicht zuletzt in der dokumentierten Haltung der Protagonistin geglückter Roman, der sich trotz der minutiösen Schilderung des Todes infolge seiner Sprachmächtigkeit kurzweilig liest. Die Auseinandersetzung besticht durch genauen, ja explorativen Realismus und bildet einen wichtigen Text zu diesem alle Menschen betreffenden Thema des Lebensendes. In einer ständig weiter alternden Gesellschaft im Pflegenotstand, in der Spitäler leicht als „abscheuliche Stätten der Vernichtung von Würde“ empfunden werden, ist eine Figur wie die „Leibwächterin“ eine menschliche, deren Empathie jedoch nicht unbegrenzt sein kann, weil sie sich selbst, um weiterleben zu können, vor dem Sog des Zu-Ende-Gehens bewahren muss. Stella erweist sich so als doppelte Leibwächterin, jene des Vaters und ihre eigene.