#Roman

Die Luftgängerin

Robert Schneider

// Rezension von Astrid Wallner

Robert Schneiders Romanerstling „Schlafes Bruder“, dem bekanntlich 23 Ablehnungen von Verlagen vorausgegangen waren, berührte ein Millionenpublikum. Übersetzungen in mehrere Dutzend Sprachen, Verfilmung und Vertonung bescherten dem Autor der Geschichte vom Hörwunder aus den Bergen neben dem überwältigenden Erfolg eines sicher auch: den Erwartungs-, und Publikationsdruck.

Nun liegt das Produkt vor, vom Markt bereits beglaubigt mit einem kolportierten Vorschuß von 1 Million DM, dem höchsten, der je im deutschsprachigen Raum an einen Autor gezahlt worden ist. In der „Luftgängerin“ variiert Schneider das Erfolgsthema des Erstlings: die einzigartige Begabung, verbunden mit übernatürlichen Kräften. So alpenrein und stilglatt wie in „Schlafes Bruder“ geht es in der „Luftgängerin“ aber ganz und gar nicht zu. Die Geschichte spielt in der fiktiven Stadt Jacobsroth, in der „äußerste[n] Provinz der Eurovision“ (S. 162), im Rheintal also, und sie spielt in der Gegenwart, genaugenommen von 1969 bis in die neunziger Jahre. Dem Rheintal setzt der Vorarlberger Robert Schneider in seinem Roman ein „Denkmal“, wie es in der Verlagsankündigung taktvoll heißt. Zu lesen steht da allerdings alles andere als eine Huldigung, ganz im Gegenteil: „[…] der rheintalische Mensch übt sich hinter dicht stehenden Thujen in Denunziation“ (S. 210), oder: „Wenn im Rheintal plötzlich eine Seele aufleuchtet, ertrinkt das Gegenüber in Neid. Das war immer so und wird sich niemals ändern, solange sich die rheintalische Welt dreht.“ (S. 116)

Und worum geht’s sonst noch? Maudi Latuhr, hineingeboren in den Niedergang der Jacobsrother Textilbourgeoisie, hat Augen „von einer Milde wie die schäumende Milch im Melkkübel“ (S. 159), Hoden in den Leisten und keine Gebärmutter; dafür ist sie mit einem Blick begabt, der die Seelen der Menschen berührt und ihre Sehnsucht wach hält – eine „Luftgängerin“ eben, die nur auf ihr Herz hört und vor nichts und niemandem Angst hat. Knapp entkommt sie einem Mordanschlag, der nie aufgeklärt wird, weil sie nicht darüber spricht, sondern einfach weiterliebt. Maudis Vater hat sich aus dem Staub gemacht, wirkt in der Ferne als Bankräuber und kehrt schließlich aufgedunsen und erblindet zurück. Nicht zu Amrei, seiner Frau, sondern zu Ines, deren Freundin, mit der er ein zweites Kind hat, Esther, die wiederum die Freundin der gleichaltrigen Maudi ist. Doppelt hält bekanntlich besser, und so ist in Jacobsroth noch ein zweiter Wundertätiger am Werk: Boje Birke, medial veranlagter Einzelgänger und Fetischist. Er ist in eine Fernsehsprecherin verliebt und läßt schon mal einen Ohrclip während ihrer Ansage davonspringen, bis es ihm schließlich gelingt, den ganzen Regionalsender per Telepathie lahmzulegen.

Gegen diese dicht gedrängte Handlung kann sich das Blick- und Seelenwunder nur schwer durchsetzen. Die vielen Themen – Geld, Religion, Medien, Ausländer, Liebe, Rechtsradikale – stehlen der Luftgängerin die Show. Die „Handlung“ besteht aus einzelnen montierten Szenen, die Sprache scheint bewußt (?) an stimmigen Bildern vorbeizuzielen. So mancher Satz wirkt unfertig, ja geradezu schlampig, wie unter Zeitdruck entstanden, die Wortwahl manieriert. All diese Mängel haben bereits im Vorfeld der Rezeption einhellig zu Abkanzelungen des Autors und seines Buches geführt. Offen bleibt, ob man dem Verfasser von „Schlafes Bruder“, dem man (wie auch immer geartete) stilistische Fähigkeiten wohl nicht absprechen kann, schlicht handwerkliche Unfähigkeit nachsagen darf, oder ob sich all das Irritierende, Widersätzliche und den Lesegenuß Störende nicht doch einem dichterischen Eigensinn verdankt, der nicht nur Erwartungen einlösen, sondern auch „eine Frage stellen“ möchte, wie der Autor in einem Interview bemerkte? Oder aber begegnet dieser Text dem Erfolgs-, Zeit- und Publikationsdruck nicht vielmehr dadurch, daß er den Roman Roman sein läßt und gleich als Drehbuchvorlage für einen Film irgendwo zwischen „Twin Peaks“ und „Die zwei Leben der Veronika“ daherkommt? In welchem Fall freilich die Filmkritik auf den Plan zu treten und die Literaturkritik in der Versenkung zu verschwinden hätte.

Robert Schneider Die Luftgängerin
Roman.
München: Blessing, 1998.
351 S.; brosch.
ISBN 3-89667-055-7.

Rezension vom 12.01.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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