Eine Antwort bleibt das Buch schuldig. Dafür rückt Roman Rocek dem legendären Lebenskünstler und Lebemann, dem grantigen Grandseigneur mit Verve, Detaillust und viel oral history zu Leibe. Er scheint dabei freilich immer wieder von der Erscheinung geblendet, die Lernet abzugeben beliebte: Denn der wollte, da er nun einmal vom Schreiben leben mußte, partout kein ernsthafter Dichter sein. Mit Literarischem kam er kurioserweise schon in der Kriegszeit bei den Dragonern in Berührung: durch die Rittmeister Karl Klammer, als K. L. Ammer ein berühmter Übersetzer Rimbauds und Villons, und Alfred von Winterstein, Freud-Schüler, Parapsychologe und Fackel-Poet. Entdeckt wurde der Lyriker Lernet von Rilke und Hermann Bahr. Damit war Karl Kraus‘ Verdikt („Sterilke“ bzw. „Puerilke“) vorprogrammiert. Daß Lernet sich bald der Dramatik zuwandte, hatte profane Gründe: Seine Familie war infolge des Weltkriegs verarmt – und das Theater das einträglichere Metier. Lernet, der zeitlebens als aristokratische Figur schlechthin galt, stammte mütterlichseits aus großbürgerlichem Kärntner Haus. Der Vater war ein Marineleutnant Lernet – oder, wie Rocek recherchiert zu haben meint, ein allzu diskreter Erzherzog.
1925 wird Lernet mit dem Drama Demetrius über Nacht berühmt, ein Jahr später erhält er den Kleist-Preis. Fortan deklariert er sich gar nicht bescheiden als „Beethoven, der Shimmies komponiert“. Aus einer Plagiatsaffäre zieht Lernet sich mit Achselzucken und einem Knalleffekt: Er gibt den Kleist-Preis zurück – freilich nur die Ehre, nicht das Geld, das er für „streng nichtliterarische Zwecke“ ausgegeben hat. – Der shooting star des Theaterhimmels hat seinen ersten „Stunk“ inszeniert und verlegt sich nun auch aufs Romanschreiben. Es folgen Die Standarte, Mars im Widder, Beide Sizilien und viele mehr. Rocek rekonstruiert das high life im sommerlichen St. Wolfgang, die professionelle Zusammenarbeit mit Stefan Zweig und Leo Perutz und des Autors amouröse Routine.
Mehr als um Lernets moralischen ist der Biograph um dessen politischen Ruf besorgt. In dem Bemühen, ihn von jedem Anstrich braunen Mitläufertums reinzuwaschen, schüttet Rocek da und dort das große Kind mit dem Bade aus. – Ein gewisses Gefühl nationaler Erhabenheit ging bei Lernet zwar von Anfang an mit Distanz einher. Aber das Geschäft im Reich war wichtiger. Nach Kriegsausbruch zog er es vor, als Leiter der Heeresfilmstelle sicher in der Etappe zu überwintern. Die Germanisten, die immer an allem schuld sind, hätten dies laut Rocek zu Unrecht besonderer Regimenähe zugeschrieben. Immerhin gehört Lernet zu den Großverdienern im Betrieb; sein Film Die große Liebe (1942), in dem Zarah Leander weiß, daß „einmal ein Wunder geschehn“ wird, ist mit 8,5 Millionen Reichsmark Einspielergebnis Goebbels‘ erfolgreichste Produktion.
Dennoch macht gerade Lernets unpathetischer Pragmatismus seine Abrechnung mit der Nazizeit glaubwürdig. Er, dem man leichtfertig das Etikett eines kakanischen Traumtänzers verpaßt hat, war in Wahrheit einer der ersten, die sich der kollektiven Amnesie widersetzten. Im übrigen agierte der bald zu einer Art Staatsdichter Aufsteigende, um mit Karl Kraus zu sprechen, als „verfolgende Unschuld“: Er nahm die Habsburger genauso ins Visier wie den „Kommunisten“ Heinrich Böll, das Finanzamt oder gegnerische Autolenker. Roman Roceks genüßlich zu lesende Biographie profitiert vom romantauglichen Leben eines Dichters, der aus Angst vor der papiernen Bürde sogar die Briefe Rilkes verbrannt und ganz bewußt so manche Spur verwischt hat.