Doch es ist nicht Frischmuths Absicht, dem Leser lediglich die Kultur, die Geschichte und die Bräuche der Aleviten nahe zu bringen. Vielmehr scheint es in dem Roman um Kritik an der aktuellen Ausländerpolitik des österreichischen Staates zu gehen – und diese Kritik ist auch übertragbar auf die Verhältnisse im Nachbarstaat BRD.
Anfangs könnte es sich um eine beginnende Liebesgeschichte handeln: Die 23jährige Programmiererin Anna, die ein Verhältnis mit dem mehr als doppelt so alten Ministerialrat Haugsdorff aus dem Innenministerium hat, verliebt sich in einen jungen, geheimnisvollen Türken, der ihr auf sehr seltsame Weise begegnet und sich Hikmet nennt. Doch Hikmet verschwindet. Und Anna arbeitet an einem Programm, welches im Auftrag des Innenministeriums Daten potentiell gefährlicher Randgruppen speichert und vernetzt. Aus diesen beiden Komponenten ergibt sich nun eher eine Krimi-Handlung: Anna sucht Hikmet, der mittlerweile jedoch in den Untergrund gegangen ist. Ein uralter alevitischer Brauch – eine Person übernimmt für eine nicht-verwandte andere Person bis ans Lebensende die volle Verantwortung – hat Hikmet veranlaßt, seine Papiere mit gefährdeten Aleviten zu teilen; so gelten er und seine Freunde als illegale Einwanderer.
Als die naive Anna beginnt, über die moralische Rechtfertigung ihrer Mitarbeit an einer Datenbank, welche die intimsten Details über die im Staat lebenden Minderheiten enthält, nachzudenken, ist es bereits zu spät: der Ministerialrat, ihr Liebhaber, hat sie ohne ihr Wissen als Spitzel mißbraucht, und es ist Anna, welche die Spezialeinheiten auf die Spur der versteckten Aleviten lockt; Hikmet stirbt bei der Razzia.
Anfangs erscheint die Zusammensetzung der Programmierertruppe um Anna herum etwas unglaubwürdig: ein Exil-Serbe und ein Libanese, der mit einem Exil-Chinesen zusammenlebt. Doch nur so kann Frischmuth auf die aktuellsten Probleme von Flüchtlingen in Westeuropa aufmerksam machen. Auch wirkt es an manchen Stellen etwas klischeehaft, daß die Türken und Aleviten in diesem Roman grundsätzlich abgrundtief sympathisch sind. Doch die Faszination einer fremden Kultur läßt sich nur über Sympathieträger nahebringen.
Frischmuths Kritik an der Ausländerpolitik wird nie offen ausgesprochen. Vielmehr lenkt sie geschickt durch die Schilderung von Lebensgeschichten, die Beschreibung einer geheimnisvollen, friedlichen Kultur und durch Zitate aus Abschiebunsgbefehlen den Leser in eine kritische Position. Und über allem steht unüberlesbar die Kritik an der heutigen Generation von Computerkids und -twens, die durch zu langen Aufenthalt in virtuellen Welten das Gefühl für die politische Realität und die eigene moralische Verantwortlichkeit verloren haben.
Die Schrift des Freundes ist wohl nicht Frischmuths bester Roman, aber mit Sicherheit einer, dessen Anliegen einige Schwächen in der Erzählung rechtfertigt.