„Ich weiß nicht, was an diesem Austausch von Wörtern, der in meinem Taxi stattfand, wichtig gewesen sein könnte für das, was in Folge passierte.“ (Seite 35)
Der besagte Austausch von Wörtern findet zwischen dem Protagonisten – Sascha, dem Nachttaxifahrer – und seinem Fahrgast Eugenie statt, die mit ihrem Wiener Liebhaber aus Prag gekommen ist, um ein romantisches Wochenende in dessen Heimatstadt zu verbringen. Nur leider macht die Familie dem verheirateten Geschäftsmann einen Strich durch die Rechnung und er lässt die junge Frau erst mal im Taxi zurück, bis er die „Komplikationen“ gelöst hat.
Was Eugenie, die versucht, ein Gespräch mit ihrem Chauffeur zu führen, nicht weiß: Für Sascha ist sie die fleischgewordene Tänzerin Eduardowa, die direkt aus Kafkas Tagebüchern auf die Rückbank seines Taxis gerutscht ist. Diese Begegnung und die Zeit, die er mit Eugenie im Taxi verbringt, setzen ein Gefühl in ihm frei, das schon lange in ihm schlummert und das im Zaum zu halten er die Jahre über gut gelernt hat. Es ist wohl – wie Kafka es in seinen persönlichen Notizen beschreibt – die „richtige“ Verzweiflung in Saschas Leben, die „ihr Ziel gleich und immer überholt“ und nicht mehr zurückgehalten werden kann „von einem Soldaten, der den Rückzug deckt und sich dafür zerreißen läßt.“1
Die einleitende Frage also, die Sascha schon nach wenigen Seiten im Text stellt und mit der er das Geschehene noch zu trivialisieren versucht, markiert tatsächlich den Beginn dessen, „was in Folge passiert“. Die simple Antwort auf die Frage wäre folglich „Alles!“.
Sascha ist überwältigt von der Koinzidenz zwischen Kafkas Tagebuchnotizen und der realen Begegnung mit Eugenie. Jenen Notizen, die ihm – wie so oft in den vergangenen Jahren – auch an diesem Abend als Lektüre die Wartezeit im Taxi verkürzen, und der jungen Frau, in der er die russische Ballerina Eugenie Platonowna Eduardowa (1882–1960) erkennen will, die Kafka als 25-Jährigen so beeindruckte und die in Folge auch in dessen Träumen vorkam. Als Sascha an diesem Morgen nach Beendigung seiner Schicht nach Hause fährt, liest er vor dem Einschlafen noch weiter im Buch und das Gelesene dringt in diesem halbwachen Zustand ungefiltert und unmittelbar in sein Bewusstsein ein. „Ich konnte keinen Abstand dazu gewinnen. Alles was geschrieben stand, wurde echt in mir. Es machte mit mir, was es wollte.“ (Seite 56)
Saschas Realität beginnt mit Kafkas Traumbildern aus der Lektüre zu verschwimmen. Von diesen in den eigenen Träumen geplagt, wird Sascha das Schlafen unmöglich. Seine Gedanken sind weiterhin bei Eugenie, die er nachts zuvor letztendlich allein vor dem drittklassigen Hotel Post abgesetzt hatte; und er spinnt ihre Geschichte weiter. Noch glaubt er zu wissen und vor allem selbst bestimmen zu können, was real ist und was nicht. Tatsächlich befindet er sich jedoch schon längst in seiner eigenen Geschichte, die für ihn die Wirklichkeit darstellt.
Bemerkenswert ist vor allem die Erzählperspektive, die Platzgumer wählt, denn alles wird uns ausnahmslos in Dialogen erzählt. In der Hauptsache spricht Sascha mit seinem älteren Bruder Milo, erzählt mit ihm gemeinsam von der Gegenwart und der Vergangenheit. Und so, wie wohl viele ältere Geschwister, übernimmt auch Milo eine erzieherische Funktion, weist Sascha zurecht und versucht den Jüngeren anzuleiten, das „Richtige“ zu tun. Doch auch die Mutter und nicht zuletzt immer wieder Kafka sind ihm ein Gegenüber. Spätestens dann erscheint die geschilderte Wirklichkeit selbst als ein Konstrukt und die Grenze zwischen einem „echten“ Dialog – geführt von zwei Menschen – und den Selbstgesprächen des Protagonisten ist nicht mehr auszumachen.
Wie schon in einigen anderen Texten Hans Platzgumers ist auch in Die ungeheure Welt in meinem Kopf das Reflektieren und Hinterfragen von Gegebenem und vermeintlich Realem und die Suche nach Innenwelten zentral. Welche Auswirkungen haben widrige Erfahrungen, große Katastrophen und kleine Kränkungen auf Menschen und machen sie zu denen, die uns folglich im vorliegenden Text begegnen? In Saschas Fall sind es nicht wenige traumatische Erlebnisse, die nach und nach zum Vorschein kommen und deutlich machen, in welch fundamentalem Zustand der Einsamkeit er sich befindet. Doch so wie Kafka versucht auch er nicht in Selbstmitleid zu versinken, sondern lebt einfach damit, ohne dem mehr Bedeutung beizumessen als notwendig. Wie viel Kraft und Anstrengung ihn dieses Arrangieren mit dem Leben jedoch die Jahre über gekostet hat, spürt er erst, als er es nicht mehr schafft, die Begegnung mit Eugenie und die darauffolgenden Geschehnisse in seine bisher gewohnte Lebensweise einzuordnen. Derart emotional gefangen in seiner eigenen ungeheuren Welt, bleibt ihm nur noch die Flucht nach vorne.
Wie schmal der Grat zwischen Vorstellung und Wirklichkeit manchmal ist und wie ungeheuerlich die eigenen Gedanken, gemessen an der Vernunft, oft sein können, haben viele von uns vielleicht schon selbst erlebt. Wenn wir auf die U-Bahn wartend am Bahnsteig stehen und uns diesen einen Schritt mehr über die Kante vorstellen, just in dem Moment, wo uns schon die vom herannahenden Zug verdrängte Luft die Haare zerzaust. Wenn wir beim Gemüseschneiden fürs Abendessen mit unseren Partner:innen so sehr in Streit geraten, dass wir fast schon die Muskeln in der messerführenden Hand zucken spüren und über den Widerstand nachdenken, den die Haut der Klinge beim Eindringen entgegensetzen würde. Auch wenn diese ungeheuerliche Welt ausschließlich in unseren Gedanken und Träumen existiert, ist sie doch ein Teil von uns, der – wie das Unbewusste nach Sigmund Freud – auch in unseren bewussten psychischen und physischen Aktivitäten zum Ausdruck kommt. In seinem aktuellen Roman lädt uns Hans Platzgumer ein, selbst auf der Couch Platz zu nehmen und, ausgehend von Sascha Konjovics Erlebnissen, ein wenig Analyse zu betreiben.
1 Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923: https://www.projekt-gutenberg.org/kafka/tagebuch/chap001.html, zuletzt abgerufen am 06.08.2024
Daniela Fürst ist Kultur- und Mediensoziologin und seit 2004 redaktionell sowie organisatorisch Teil des Projektes literadio, das Gegenwartsliteratur hörbar macht.