#Sachbuch

Die Unsterblichkeit Achills

Jürgen Manthey

// Rezension von Richard Reichensperger

Thomas Mann nannte sein Schaukelpferd „Achill“ und umkreiste – etwa in Der Erwählte und in Joseph und seine Brüder – immer wieder schwierige Sohn/Mutter/Geschwister-Beziehungen. Der prominente Essener Literaturwissenschaftler Jürgen Manthey betätigt sich, von solchen Grundkonstellationen ausgehend, in seinem Essayband als Erzähler – nicht nur der Geschichte Achills, sondern der ewigen Wiederkehr des homerischen Mutter-Problems in Werken des weltliterarischen Kanons: Von Gilgamesch über die Propheten, das Mittelalter, Shakespeare, Goethe bis zu Kafka, Musil, Nabokov und Paul Auster: Ein weites Feld, ein großer Überblick, die Rettung des souveränen Erzählers in Gestalt des modernen Literaturwissenschaftlers.

Die große Synthese ist aber nur möglich, weil alle Werke und Zeiträume mit einer vergleichsweise einfachen Grundthese der Psychoanalyse überspannt werden: Es ist immer die Mutter. Schon beim Trojanischen Krieg: Achill grollt seinen Landsleuten, weil er seine Beute-Jungfrau Chriseis an Agammemnon abliefern muß. Aus gekränktem Narzißmus bittet er seine Mutter Thetis, zu Zeus zu eilen, auf daß dieser den Troianern beistehe und Achills Landsleute, die Griechen, vernichte. Die Mutter bestärkt ihn umgekehrt darin, einerseits weiter zu zürnen und sich gleichzeitig im Schiffsbauch (!) zu verstecken.

Mantheys Ausgangsthese: Nicht nur das Aggressionspotential rührt aus ungelösten Sohn/Mutter-Beziehungen und ödipalen Vater-Bekämpfungen her, sondern das Erzähl-Potential der Literatur entwickelt sich in verschiedenen Gestaltungen aus diesem einen Urkonflikt heraus – dies sei der „Ursprung des Erzählens“.

Schade. Bei diesem Untertitel hätte man sich literaturtheoretisch eigentlich Tiefschürfenderes erwartet. Zum Beispiel eine Thematisierung von Epochen-Brüchen, von Abbrüchen in der Erzählform (wie Georg Lukács etwa den Roman geschichtsphilosophisch abtrennte vom Epos). Das psychoanalytische Schema hat aber den Vorteil, ahistorisch zu sein – und deshalb lassen sich riesige Zeiträume ohne weitere literaturhistorische oder gar ästhetische Reflexion überspannen: In Hartmann von Aues Gregorius wird ein Inzest thematisiert; in Goethes Werther zwar nicht, aber: „Werther ist bei der Mutter aufgewachsen.“ Die Vater-Ordnung hingegen symbolisiert die Normen der Gesellschaft, gegen die Werther rebelliert. Dieser Konflikt zwischen zwei Systemen generiert, so Manthey, das Schreiben über Jahrtausende.

An sich könnte Mantheys Ansatz, das Konfliktpotential in Literatur herauszuarbeiten, interessant und selbst konfliktgeladen sein. Auch verfügt er über ein souveränes Wissen, aus dem heraus der Leser Interessantes erfährt, etwa über Nabokov oder Faulkner (dem der vielleicht beste Abschnitt des Bandes gilt). Leider aber wirken die langen Inhaltsangaben und das Herauslösen einer einzigen Schicht aus diesem Inhalt ermüdend: Die großen Spannungen zeigen sich in der Literatur doch in der Sprache, im Experimentieren mit neuen Formen – in Mantheys Untersuchung klingen Kafka oder Musil aber nicht anders als Hartmann von Aue oder Thomas Mann oder Paul Auster.

Dazu kommt eine erstaunliche Ignorierung der einschlägigen Forschung: So existieren zu Kafkas Verwandlung, auf die Manthey eingeht, viele und (mit Deleuze/Guattaris Anti-Ödipus oder Reiner Stachs Der erotische Mythos) auch psychoanalytisch weiterführende Untersuchungen: demgegenüber wirkt Mantheys Deutung so eindimensional wie jene ersten Kafka-Psychologisierungen, gegen die früh schon Adorno und Benjamin polemisierten. Desgleichen bei Musil: Warum wohl ist der Mann ohne Eigenschaften so dick? – Weil, so Manthey, die Mutter darin nur als Abwesende vorkommt und der Dichter soviel schreiben muß, um ihr auf die Spur zu kommen. Deshalb sei der Roman auch „mißglückt“, wobei Manthey wie viele andere traditionell unterstellt, daß der Fragmentcharakter des Romans eine Unfertigkeit/Unfähigkeit sei – Fragment, Torso, Bruchstück können aber auch die einzig angemessene (und seit der Romantik sogar geforderte) Auseinandersetzung eines komplexen modernen Dichters mit einer zerfallenden Welt sein, der man gerade nicht wieder eine „Einheit“ entgegensetzen möchte. Gerade Musil entwickelt nicht nur verschiedenste psychologische Typen, sondern diskutiert unterschiedlichste Deutungs-und Denksysteme – die allerdings in der inhaltsbezogenen Psychologisierung notwendig ebenfalls zu kurz kommen.

Ein Problem, das auch bei ähnlichen Überblicks-Werken – etwa in den Büchern des Peter von Matt – zuweilen auftaucht, zeigt sich auch bei Manthey: Mancher globale Ausblick ist einfach falsch. Bei Manthey z. B. die Behauptung, die Propheten hätten den eigenen Städten ebenso den Untergang gewünscht wie Achill der griechischen (Stadt-)Zivilisation: Die theologische Exegese hat aber herausgearbeitet, daß Propheten oft von einer vergangenen Katastrophe sprachen und diese als Bild für eine Gegenwarts-und Zukunftsbedrohung entwickelten, und zwar nicht als Wunsch, sondern als Warnung und Aufforderung zur radikalen Umgestaltung.

Was aber Mantheys Untersuchungen doch wieder anregend macht, ist die implizite Aufforderung an die Leser(innen), Bezüge und Kontraste herzustellen, ja eben vielleicht auch zu widersprechen. Schließlich steckt die Literatur voller Konflikte, die im Ursprung bedeutender literarischer Werke brodeln. Diese Konflikte sind vielleicht primär tatsächlich psychische; ausgedrückt aber werden sie in sprachlichen, in formalen, in gedanklichen Reibungen: riesige Spannungsmomente, brodelnde Vulkane – Manthey erkennt ihre untergründige Bewegung vom Kraterrande her.

Jürgen Manthey Die Unsterblichkeit Achills. Vom Ursprung des Erzählens.
München, Wien: Hanser, 1997.
470 Seiten, gebunden.
ISBN 3-446-18942-4.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 01.07.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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