#Sachbuch

Die verdächtige Pracht

Peter von Matt

// Rezension von Hermann Schlösser

Peter von Matt zu loben ist nicht schwierig. Was er schreibt, ist lehrreich, ohne lehrhaft zu sein, unterhaltsam, doch nicht seicht, präzise, aber nicht pedantisch. Auch sein jüngster Band, der vor allem ältere Arbeiten versammelt, verdient diese Komplimente und noch manche mehr. In unterschiedlichen Textsorten – vom fundierten wissenschaftlichen Aufsatz bis zur feuilletonistischen Glosse – betrachtet der Autor deutschsprachige Lyrik aus den vergangenen drei Jahrhunderten. Vor allem im zweiten Teil, der den Titel „Kleine Deutungen“ trägt, erweist er sich dabei als Könner und Kenner, der am Wohlbekannten so viel Interesse zeigt wie am Vergessenen.

Da sein Interesse psychoanalytisch fundiert ist, spielen Sexualität und Erotik in seinen Erörterungen eine entscheidende Rolle. Goethes scheinbar unschuldiges Liedchen Sah ein Knab ein Röslein stehn liest er z. B. als eine sublime Vergewaltigungsphantasie. Doch bleibt er bei diesem kritischen Urteil, das etwa Ruth Klüger ähnlich gefällt hat, nicht stehen. Er beantwortet die darüber hinaus literarhistorisch belangvollere Frage, warum Generationen von ergriffenen Lesern und Leserinnen diesen Gewaltanteil in Goethes kleinem Liedchen nicht bemerkt haben. Warum also? „Weil man auf die ersten zwei Strophen hereinfällt. Die eine redet von lauter Freude, die andere von Schmerz und Widerstand, da muß doch wohl in der dritten die Synthesis stecken und aller Gegensatz sich aufheben in Erfüllung. So eingefleischt ist uns dieser Dreischritt, daß wir ihn unterstellen, wo er doch gerade fehlt …“

Interessanter noch als solche Neubewertungen des Bekannten sind die Entdeckungen des immer schon Unbekannten oder Vergessenen. So legt von Matt seinen Lesern das Gedicht Nicola Pesce von Conrad Ferdinand Meyer ans Herz, mit dem schon Meyers Zeitgenossen wenig anfangen konnten. Was zunächst kaum mehr als ein schulmäßig gelungenes Sonett über einen wenig bekannten Sagenhelden zu sein scheint, erweist sich in von Matts Lesart als ein „kleines narzißtisches Lehrstück“: Nicola Pesce, der Fischmensch, gibt sich in egozentrischer Lust dem „kühlen Gleiten“ durch die Ozeane hin. Anders als der „Taucher“ in Schillers Ballade, der aus derselben sizilianischen Sage stammt, wird dieser Pesce für seine Wasserfreuden nicht einmal bestraft. Von Matt vermutet, daß dieses Fehlen eines moralisierenden Schlusses dafür verantwortlich ist, daß Meyers Wassermensch weniger bekannt ist als derjenige Schillers.

Mit solchen Einzeldeutungen beweist der Schweizer Germanist, daß er gerade den etwas „verstaubten“ Autoren ungeahnte Qualitäten abgewinnen kann. Gewiß sind auch seine Arbeiten zu klassischen Lyrikern wie Goethe, Schiller oder Heine lesenswert. Origineller und wohl auch von größerem fachlichen Gewicht sind jedoch von Matts Interpretationen von Autoren wie Conrad Ferdinand Meyer, Ludwig Uhland, Friedrich Hebbel, Hermann von Gilm oder Annette von Droste-Hülshoff. Das ist kein Zufall, sondern programmatische Absicht. Im Gegensatz zu den zahlreichen Erforschern der Moderne fordert von Matt ausdrücklich eine „Theorie des Altmodischen“, und er liefert mit seinen Einzelstudien Bausteine dazu. Der gewichtigste liegt im grundlegenden Aufsatz über Annette von Droste-Hülshoffs Die Schwestern vor. Oberflächlich betrachtet, handelt es sich bei dem Gedicht um eine „literarische Klamotte“, wie von Matt selbst zugibt: Gertrude, die ältere Schwester, wird von der sterbenden Mutter mit der Sorge für die jüngere Helene betraut. Sie ist dieser Verpflichtung nicht gewachsen, Helene flieht in die Stadt, wird dort zur Hure, die in amourösen Ausschweifungen rauschend zugrundegeht. Die gute Gertrude büßt die Sünden ihrer bösen Schwester mit Schuldgefühlen und Wahnsinn ab. Am Ende des Gedichtes sind beide Frauen tot. Doch spukt der Geist der rastlosen Gertrude noch in den Wäldern.

In minutiöser Lektüre, die Ähnlichkeiten mit Verfahren der Psychoanalyse zeigt, legt von Matt nun den emotionalen Kern frei, der von der altmeisterlich „gebundenen Sprache“ der Annette von Droste-Hülshoff so sorgsam verhüllt wird: „Hinter dem starren Äußeren aber ist alles ganz anders. Eine Frau will leidenschaftlich zu sich selber kommen, sucht leidenschaftlich nach sich selbst und findet sich erst im Wahn, im Tod, in der Zerstörung. Die innen Kaputte wird heil, indem sie außen kaputtgeht.“ So umschreibt der Interpret das Psychodrama, das die meisten Leser in dem überaus langen und mitunter auch langweiligen Poem Die Schwestern wahrscheinlich nicht einmal gesucht hätten.

Wie gesagt, es ist nicht schwierig, Peter von Matt zu loben. Doch darf man auch bemerken, daß seine psychoanalytisch versierte Interpretationskunst – wie jede wissenschaftliche Methode – ihre blinden Flecken hat. Im fünften Teil des Bandes, betitelt „Stimmengemisch der Moderne“, tauchen neben „Klassikern“ wie Stefan George, Else Lasker-Schüler oder Paul Celan ausschließlich Vertreter einer leserfreundlichen, verständlichen und bekömmlichen Moderne auf: Joachim Ringelnatz, Theodor Kramer, Sarah Kirsch, Friedrich Dürrenmatt, Hans Magnus Enzensberger, Thomas Bernhard, Peter Maiwald, Günter Kunert, Ulla Hahn. Bei allen Unterschieden in Qualität und Anspruch ist diesen Lyrikern gemeinsam, daß ihre Gedichte Themen – also etwa „die Liebe“ – behandeln, die sich als Inhalte dingfest machen lassen. Und eben dies scheint Peter von Matt zu brauchen, um seine interpretatorische Phantasie in Gang zu bringen.

Die Vorstellung, daß ein Text einen identifizierbaren Inhalt oder gar einen Sinn haben müsse, ist jedoch im Lauf des 20. Jahrhunderts von einer radikal sprachskeptischen Avantgarde sehr in Frage gestellt worden – vom Dadaismus über die Wiener Gruppe bis hin zu den Sprachspielen von Reinhard Priessnitz, Ferdinand Schmatz, Thomas Kling und anderen. Diese systematische Unterminierung traditioneller Sinnangebote taucht in Peter von Matts „Stimmengemisch“ nicht auf, als ob sie der Rede nicht wert wäre. Statt dessen entwirft der Autor in einem umfangreichen Einleitungsessay eine Anthropologie der Lyrik, die von der zentralen These „Das Gedicht will schön sein“ ausgeht. Aus diesem Willen zur Schönheit erwächst jene „verdächtige Pracht“, die auch zum Titel des Buches taugt. Mit einiger argumentativer Energie verteidigt von Matt nun seine schöne Lyrik gegen all die Kritiker, denen sie aus politischen oder moralischen Gründen „verdächtig“ ist. Daß es jedoch seit geraumer Zeit auch gute Gedichte gibt, die weder schön noch sonst irgendetwas sein wollen, bedenkt er in seinem polemischen Eifer zu wenig. Deshalb ist der Theoretiker des Altmodischen von einem altmodischen Theoretiker nicht immer genau zu unterscheiden. Das mindert den Wert und Reiz seiner Einzelinterpretationen nicht, begrenzt aber doch die Reichweite seiner allgemeingültigen Aussagen.

Peter von Matt Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte.
München, Wien: Hanser, 1998.
339 Seiten, gebunden.
ISBN 3-446-19494-0.

Rezension vom 24.11.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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