#Sachbuch

Die verschwiegenen Engel

Gerhard Melzer

// Rezension von Daniela Strigl

Die verschwiegenen Engel, damit meint der Grazer Germanist Gerhard Melzer nicht etwa, in allzu gläubigem Vertrauen, die österreichischen Literaturproduzenten. Den Titel seiner Aufsatzsammlung hat er vielmehr von Ilse Aichinger geborgt, die den Begriff ihrerseits auf Georg Trakl münzte. Die „verschwiegenen Engel“ der Dichtung sind demnach Botschafter des Unaussprechlichen, Garanten des Geheimnisses, das nur genannt, aber nicht mitgeteilt werden soll. Unter diesem Aspekt resümiert Melzer seine Texte zur heimischen Literatur in der Einleitung: Ihnen sei die Frage nach den Grenzen der Sprache eingeschrieben, nach der produktiven Spannung zwischen Spracherneuerung und Schweigen; eine Frage, die freilich in den besprochenen Werken selbst begründet liege. Dieser rote oder besser silberne Faden des sprachlich Engelhaften, der ihm erst beim Wiederlesen seiner Aufsätze zu leuchten anfing, verleitet Melzer zu einer religiös anmutenden Absichtserklärung: Seine Studien sollten „im besten Fall erhellende Nacherzählungen sein, die aufschließen, was die Texte sagen, aber mitschweigen mit dem, was in den Texten ausgespart ist.“

Was hier geradezu wie eine demokratisierte Variante der Goebbelsschen „Kunstbetrachtung“ klingt, die sich der groben Mittel der Kritik gefälligst nicht zu bedienen hatte, wird von Gerhard Melzer gottlob nicht ganz so umgesetzt. Er beginnt mit einer tour d’horizon durch die prekären Heimatbegriffe der neueren österreichischen Literatur und konzentriert sich dabei auf zwei der drei „Hauptdichter“ des Bandes: auf Peter Handke und Thomas Bernhard, hinter dessen Anschwärzung er das nostalgische Bild eines früheren, größeren, anderen Österreich ausmacht. Daß Sprachskepsis und Sprachmagie und deren wechselseitige Bedingtheit für die Betrachtung der österreichischen Literatur keine neuen Gesichtspunkte darstellen, weiß Melzer selbst. Das enthebt den Literaturprofessor aber nicht der Pflicht, es doch irgendwo noch einmal erklären zu müssen, und warum sollte eine zusammenfassende, konzise Behandlung des Themas nicht nützlich sein? Den einschlägigen, berühmten und immer wieder als „berühmt“ zitierten Tractatus-Satz sollte man sich dabei aber wohl aus Gründen der geistigen Abnützung endlich verkneifen. (Nein, ich verschweige ihn wirklich, wozu ist er denn berühmt?) Und auch das Hofmannsthalsche Lord Chandos-Zitat müßte einem eigentlich schon im Mund zerfallen „wie modrige Pilze“.

Indem Melzer über Wut und Wehmut in Bernhards Wien-Anrufungen nachdenkt und auch hier eine Art Vertreibung aus dem Paradies (dem privaten der fünfziger Jahre) konstatiert, beweist er, daß sehr wohl auch die Germanistik am „ganzen Bernhard“, wie von Alfred Pfabigan eingemahnt, interessiert ist und diesem bereits einige düster schillernde Facetten abgerungen hat.

Gewinnbringend ist hier eine kürzere Betrachtung zu Bernhards autobiografischen Texten, in deren Zusammenhang Melzer ein „paradoxes Telos“ erkennt: Das „Heraustreten aus dem Schattenreich einer unsicheren Herkunft“ und das eilige Verwischen der gefundenen Umrisse, die Selbstbestimmung und die Selbstsprengung. Nur die gefährliche Fallhöhe radikaler Gegensätze gibt dem Ich den nötigen Spiel-Raum zur Existenz. Melzer zeigt auch, wie Thomas Bernhard einer unscharfen Trennung zwischen Autor und Erzähler durch gespielt naive Bekenntnisse Vorschub leistet. Was soll man einem Landbewohner noch glauben, der vorgibt nicht zu wissen, „wie eine Amsel ausschaut“? Melzer bleibt auf der Hut und doch respektvoll und wendet sich bedächtig-neugierig der lohnenden Untersuchung der „Maschinenmetapher“ bei Bernhard zu.

Geduldig, genau und ohne jede effekthaschende Akrobatik geht der Autor auch mit Peter Handke um, der ihm sichtlich noch näher steht. Melzer setzt seine weitgestreuten und akkuraten Literaturkenntnisse quasi en passant ein. (Nur eine Bemerkung über H. C. Artmann trifft diesen nicht und den Leser unvorbereitet.) Beim Nachvollzug der Handkeschen Poetik zwischen dem erotischen Blick auf die Welt und ihrer mythischen Verwandlung kommt der Interpret seiner Vorstellung vom gleichgestimmten Mitschweigen freilich am nächsten. Dennoch widerspricht Melzer glaubwürdig jenen „böswilligen Rezensenten“, die Handkes anschwellenden Glücksgesang nur noch als Predigt deuten wollen: Handkes Glück erscheint als eines von dieser Welt, also als seltenes, kostbares und zerbrechliches Gut. Allein Melzers seriöse, ja liebevolle Lektüre bedeutet eine Warnung für jeden, der mit dieser sich naturgemäß stark exponierenden Literatur allzu schnell und allzu leicht fertig wird.

Der prächtigste Aufsatz des Bandes ist jedoch der einzige, der tatsächlich gegen seinen Gegenstand ermittelt und nicht mit ihm schweigt: „Der einzige Satz und sein Eigentümer“ firmiert im Untertitel als Versuch über den symbolischen Machthaber Elias Canetti. Melzer geht von der in Die gerettete Zunge geschilderten Episode der Cousine Laurica aus, die, größer als der kleine Elias und schon des Lesens kundig, diesen durch ihre demonstrative Überlegenheit bis zur Weißglut reizt: Er holt eine Hacke, um sie zu erschlagen; der Großvater schreitet ein. Brillant beschreibt Melzer das Tabu des Todes, das Canettis Werk dominiert, und die zerstörerische Macht, die es bannen soll und die sich doch in der Schrift ihre Bahn bricht: „Auf seine Weise hat Canetti nie aufgehört, auf Laurica loszugehen. Und wie auf sie schlägt er auf alle ein, die in ähnlicher Weise an seine Ohnmacht rühren. Er bedarf dazu keines Beils. […] Canetti tötet, indem er schreibt.“ Der aggressive Charakter des vorgeblich souveränen Autobiografischen drängt sich wohl jedem Canetti-Leser auf, hier wird er feinsäuberlich aufgeblättert. Gerhard Melzer spricht gerade über das, was der Dichter verschweigt, vor sich selbst verschweigen muß. Die Analyse ist geschliffen, weil ihr Autor diesmal wohlweislich nicht unbewaffnet antritt. Der Band enthält auch einen feinen Vergleich mit Handke (unter dem Signum der Unsterblichkeit) und eine abwägend-ausgewogene Abhandlung über „das Geheimnis“ bei Canetti, das Melzer vor allem aus den Stimmen von Marrakesch destilliert. Aber am liebsten ist mir die präzise Beweisführung gegen den Selbst-Gerechten, die von dem ästhetischen Mehrwert profitiert, der mit einer Wendung ins Polemische einherzugehen pflegt.

Gerhard Melzer Die verschwiegenen Engel. Aufsätze zur österreichischen Literatur.
Graz, Wien: Droschl, 1998.
207 Seiten, gebunden.
ISBN 3-85420-481-7.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 09.04.1999

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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